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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

wird angeregt und hat einen großen Spielraum, den sie mit ihren Bildern und Träumen ausfüllt. Fast mit unerklärlicher Sehnsucht sah daher Emma dem Eintreffen des ihr persönlich fremden und wiederum geistig so nahe stehenden Gastes entgegen. Gerade ihre ideelle Natur mußte sich zu einem Manne hingezogen fühlen, dessen ganzes Streben nach dem Höchsten gerichtet war. – Endlich traf der von den Geschwistern sehnlichst Erwartete ein; seine äußere Erscheinung zerstörte diesmal nicht, wie es häufig zu geschehen pflegt, das von ihm im Voraus entworfene Bild. Sein zurückhaltendes Wesen stimmte zu ihrem sinnigen und tieferen Charakter, sein ernstes, würdiges Benehmen, das nicht ganz zu seiner Jugend zu passen schien, schadete ihm nicht in ihren Augen. Minder günstig war der Eindruck, den Sand auf den schärfer beobachtenden Vater seines Freundes machte. Dem klaren, praktischen Manne war weder die Einseitigkeit des Gastes, noch eine schwärmerische Ueberschwänglichkeit entgangen, die er jedoch auf Rechnung der Jugend zu schreiben geneigt war; obgleich er Friedrich seine offene Meinung und die daran sich knüpfenden Befürchtungen nicht verhehlte, als dieser ihn fragte, wie ihm Sand gefiel.

„Ich will es Dir nicht verschweigen,“ sagte er bei dieser Gelegenheit, „daß Dein neuer Freund mir mancherlei Besorgnisse einflößt, obwohl auch ich seiner ehrenhaften Gesinnung und der Festigkeit seines Charakters die vollste Anerkennung zollen muß. Dagegen glaube ich, an ihm eine geistige Beschränktheit und Einseitigkeit zu bemerken.“

„Ich glaube doch,“ entgegnete der Sohn, „daß es ihm nicht an Talent fehlt.“

„Das meine ich auch nicht damit, obgleich ich eine außerordentliche Begabung nicht an ihm herausfinden kann. Die Reden, welche er vorzubringen weiß, dürfen Dich nicht verblenden, da sie nicht ursprünglich in ihm entstanden sind, sondern mehr in der Luft zu liegen scheinen. Dafür besitzt Dein Freund, wenn ich nicht irre, eine Willenskraft, welche, mit Einsicht, Klarheit und Genie gepaart, das Größte leisten würde. Leider aber fehlen ihm diese Gaben, und es tritt daher ein Mißverhältniß zwischen seiner Energie und seinen übrigen Seelenkräften ein. Auch spreche ich ihn nicht ganz von einem gewissen Ehrgeize und geistigen Hochmuthe frei, der gerade solchen beschränkteren Naturen inne wohnt; wenn ich ihm auch dies Streben nach Auszeichnung nicht als Fehler anrechnen will.“

Hagen bemühte sich, dieses scharfe Urtheil des Vaters zu widerlegen und den Freund zu vertheidigen, obgleich er in seinem Herzen ihm nicht ganz Unrecht zu geben vermochte. Indeß schwächte diese Erkenntniß in keiner Weise die Zuneigung und bald verschwand auch der letzte Rest seiner Bedenken vor dem persönlichen Eindrucke, der seine alte Kraft behauptete. Weit mehr bekümmerte ihn, daß er an dem Freunde eine Zunahme seines früher angedeuteten Trübsinnes zu bemerken glaubte; die ihm eigene melancholische Stimmung trat weit schärfer noch hervor und verleugnete sich selbst in der Gesellschaft Emma’s nicht, in der sich Sand weit mehr zu gefallen schien, als sonst seine Weiberscheu zuließ. Friedrich hielt es für seine Pflicht, eines Tages den Freund um die Ursache seiner Mißstimmung zu befragen.

„Dich scheint,“ sagte er, Sand’s Hand erfassend, „ein geheimer Kummer zu bedrücken. Ich glaube, als Freund auch ein Recht auf Deine Sorgen zu haben.“

„Ich habe,“ antwortete Sand, „durchaus keinen Grund, über mein Schicksal zu klagen. Du weißt, daß meine guten Eltern zwar nicht reich sind, aber sich in guten Verhältnissen befinden, so daß keine materielle Roth mich anficht. Auch lieben sie mich mit einer Innigkeit und Zärtlichkeit, die ich kaum verdiene. Eben so bin ich vollkommen mit meinem einmal erwählten Berufe zufrieden. Ich genieße die Achtung meiner Lehrer und die Liebe meiner Commilitonen in Jena, die mich sogar für das nächste Jahr zum Sprecher und in den Vorstand gewählt haben. Mitten in meinem Glücke aber überschleicht mich ein Gefühl, das ich Dir nicht mit Worten beschreiben kann. Es ist mir zu Muthe, als wäre ich ganz unnütz auf der Welt und müßte eine große That vollführen, um mein Dasein gleichsam zu entschuldigen.“

„Sollte das nicht Hochmuth sein?“ fragte der Freund, durch die Unterhaltung mit seinem Vater aufmerksam gemacht.

„Du thust mir Unrecht, da Niemand seinen Unwerth lebhafter fühlen kann, als ich, zumal seitdem ich in Jena lebe und innerhalb der Burschenschaft solche Männer, wie den herrlichen Follen, den edlen, tief poetischen Binzer[WS 1] und noch viele Andere kennen gelernt habe, denen ich nicht Werth bin, die Schuhriemen aufzulösen. Sie übertreffen mich an Geist und Talent hundertfach, und in ihrer Nähe komme ich mir nur wie ein unwürdiger Knecht vor, dem nur das einzige Verdienst bleibt, daß er aus Opferfähigkeit Keinem und selbst nicht dem Bedeutendsten und Größten unter diesen Männern weicht.“

Bei diesen Worten, welche aus der Tiefe seiner Seele kamen, leuchteten Sand’s Augen in wunderbarem Glanz.

Ein leises Geräusch ließ sich jetzt vernehmen und Emma trat in das Zimmer, um die Freunde zu mahnen, daß es Zeit sei, den Turnvater Jahn zu besuchen, dessen nähere Bekanntschaft zu machen Sand sich längst gewünscht hatte. In Gesellschaft Juliens, die sich ebenfalls eingefunden hatte, traten die Geschwister mit ihrem Gaste ihre Wanderung nach der vor dem Hallischen Thore gelegenen Hasenhaide an, wo sie sicher waren, den alten Freund der Familie mitten unter seinen Zöglingen zu finden. Schon auf dem Wege dahin sahen sie eine Menge von Knaben und Jünglingen in leichten Turnerjacken von ungebleichter Leinwand, welche wie sie nach der Hasenhaide strömten. Dort zwischen Kiefern und Fichten auf einem freien Platze hatte Jahn seine bekannte Turnanstalt errichtet, um die Jugend der Residenz durch körperliche Uebungen aller Art zu einem mannhaften Geschlechte heranzubilden. Aber auch geistig suchte der wackere Lehrer ihre vaterländische Gesinnung zu verbreiten und vor Allem das Selbstgefühl der Nation zu erwecken. Seine Abneigung gegen alles Fremdländische und besonders gegen das Franzosenthum äußerte sich selbst in seiner Sprechweise, die im Streben nach Reinheit und Ausmerzung aller undeutschen Elemente sich in allerlei seltsamen Wortbildungen gefiel. Die Freunde begrüßten ihn und Sand unterließ nicht, sich ihm als einen Gesinnungsgenossen und eifrigen Turner vorzustellen, wodurch er sogleich sein Herz gewann, Jahn mit seinem langen Barte, den großen blauen Augen, den markirten Gesichtszügen war eine durchaus originelle und auffallende Erscheinung. Sein ganzes Wesen war ein wunderliches Gemisch von Derbheit und Schalkhaftigkeit, von Kindlichkeit und Enthusiasmus. Neben den tollsten Einfällen und Behauptungen entfielen seinem Munde in der Unterhaltung oft wahre Goldkörner von Gedanken voll Tiefe und Begeisterung. Bald war er jetzt mit dem ihm in manchen Beziehungen verwandten Sand im eifrigen Gespräche über seine Lieblingsideen, das Turnen und die deutsche Einheit.

„Ich würde mich,“ sagte er in seinem Eifer, „mit tausend Freuden selbst rädern lassen, wenn ich dadurch Deutschland einig machen könnte. Das ist aber nur möglich, wenn erst die ganze „Volkskleinerei“ beseitigt wird. Auch müssen Deutschlands Grenzen wahre Scheiden sein, sonst ist es der ewige Wahlplatz, das ewige Blutfeld aller Weltkriege, das Rüst- und Zeug-, Werbe- und Drillhaus der Welteroberer, ihr Speicher und ihre Kriegsesse, Welthammer und Weltambos für jeden Riesengriff einer Geißel Gottes. Zumal zwischen uns und Frankreich muß als Grenzscheide eine „Hamme“ liegen.“[1]

„Was heißt das?“ fragte Sand, dem das Wort unbekannt war.

„Unter „Hamme“ verstehe ich eine Wildniß. In Altdeutschland ist ein Stamm und Ort um so berühmter gewesen, je größer und undurchdringlicher der Wald sein Gebiet ummarkt hat und die freien Dithmarsen haben ihre Unabhängigkeit gegen die Dänen mit einer kurzen „Hamme“ lange Zeit bewahrt. Peter der Große hat für Rußland ebenfalls eine solche „Hamme“ anlegen wollen, ist aber darüber gestorben. Wenn man durch Kunstfleiß der Natur nachhelfen und die Erde verschönern kann, so läßt sich auch eben so gut eine undurchdringliche Menschenwüste künstlich hervorrufen. Warum nicht zum Wohle des Vaterlandes Marschen vermorasten, Auen einsumpfen, Höhen „verfurten“, Niederungen verbuchen und gewässerte Thäler durch Wall und Mauern zu Seen stauen? – Statt aller Thiergärten im Kleinen wird dann ein großer Erdstrich eine Versammlung des gesammten Thierreichs abgeben. Erst muß man grasfressende Thiere hineintreiben und verwildern lassen; dann Roth- und Schwarzwild, Elennthiere und Auerochsen, zuletzt Raubthiere aller Art. Natürlich dürfen im Bezirk der „Hamme“ keine Gebäude, nur Trümmer bleiben. Wenn die Wildniß wenigstens einen Grad breit ist und gegen das Vaterland hin noch mit einer Doppelreihe von Verwallungen und Dornhecken eingezäunt

  1. Wörtlich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_106.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2020)