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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Die Taschen sind so enge, daß sie selbst kaum hineinfassen können. In diese stecken sie nun ihre Börsen.“

„Ah, sehr sinnreich!“

„Leider war es nur in der ersten Zeit so. Die Diebe kamen bald dahinter, und nun konnten sie zwar auch noch nicht in die engen Taschen kommen –“

„Ah, ah, das war den dummen Dieben Recht, lieber Graf.“

„Aber sie wußten es sich in anderer Weise noch bequemer zu machen, und man sah auf einmal in Berlin nichts, als Gardeofficiere, denen hinten die Rockschöße abgeschnitten waren.“

„Was, was, Graf?“

„Rein abgeschnitten, sage ich Ihnen, Baron.“

„Das ist ja eine empörende Frechheit.“

„Ja, frech sind die Berliner Diebe.“

Der Baron war auch mit seiner Börse auf dem Wege in die Rocktasche gewesen. Als er von den abgeschnittenen Rockschößen hörte, besann er sich. „Verteufelte Frechheit!“ sagte er. „Aber,“ fragte er dann, „sind denn die Gardeofficiere nicht klüger geworden?“

„O doch; sie stecken jetzt gar kein Geld mehr zu sich.“

„Und die Diebe nun?“

„Schneiden ihnen keine Rockschöße mehr ab.“

Der Baron brachte auch seine Börse in die Rocktasche. –

Man war auf dem Berliner Bahnhofe angekommen. Der Zug hielt. „Sollten schon hier auf dem Bahnhofe Diebe sein?“ fragte der Baron.

„Hier erst recht.“

Der Baron hielt, obwohl er noch im Coupé war, mit beiden Händen seine Rocktaschen fest, in die er seine theure goldne Uhr und seine schwere Börse gebracht hatte. Der Graf sah es.

„Darf ich Ihnen noch einen Rath ertheilen, lieber Baron?“

„Sie sind sehr gütig, lieber Graf.“

„Halten Sie nie die Tasche oder den Ort fest, wo Sie Gegenstände von Werth tragen. Sie zeigen dadurch dem Diebe geradezu an, wo er etwas zum Stehlen findet. Sie dürfen nicht einmal Miene machen, hinfühlen zu wollen.“

Der Baron ließ seine beiden Rocktaschen los.

„Aussteigen!“ commandirten die Schaffner an den Wagen der zweiten und dritten Classe. „Wäre es den Herrschaften gefällig, auszusteigen?“ bat einer höflich an dem Coupé der ersten Classe. Zugleich reichte er schon der Baronin die Hand, ihr beim Aussteigen behülflich zu sein.

„Ich bitte, lieber Graf,“ sagte der Baron höflich zu dem Grafen Schimmel.

Aber der Graf war noch höflicher. „Nach Ihnen, lieber Baron.“ Und er half auch schon dem Baron – aussteigen, wobei er sprach: „Vergessen Sie nur meine Ermahnungen nicht. Sie sehen, wie viele Menschen da stehen. Unter dreien können Sie jedesmal auf einen Spitzbuben rechnen. Besonders nehmen Sie sich vor jenem lauernden Gesichte in Acht. Es blickt gerade hierher. Dort links ist es. Und vor Allem fassen Sie nicht nach Ihrer Börse und nach Ihrer Uhr. Sie hätten sie in demselben Augenblicke verloren.“

Der Baron war ausgestiegen. Er hielt seine Hände steif vor sich hin. „Ah, wie bin ich Ihnen dankbar, lieber Graf.“

Der Graf Schimmel stieg ebenfalls aus dem Wagen. Draußen nahm er Abschied. „Ich habe mich sehr gefreut –“

„Charmirt, charmirt, lieber Graf!“

„Ich hoffe auf das Glück, Sie am Hofe wiederzusehen, Sie lassen sich doch vorstellen?“

„Ich denke.“

„Also au revoir. Meine Gnädigste, Ihr Unthäniger.“

Er war fort. „Ein charmanter junger Mann, mein theurer Baron.“

„Und so gewandt.“

„Aus einem alten Hause, man sieht es ihm an.“

„Und so dienstfertig. Wie half er mir aus dem engen Wagenschlage!“

„Und mit allen Berliner Verhältnissen so vertraut.“

„Besonders mit den Diebesgeschichten.“

„Du vergißt doch seine Ermahnungen nicht, mein lieber Freund?“

„Gewiß nicht. Ich habe sogleich Uhr und Börse in meine Rocktasche gesteckt.“

„Fühle nur ja nicht nach ihnen; ich sehe so viele lauernde Augen um uns.“

„Ich hüte mich, verlaß Dich darauf. Ich halte expreß die Hände auf meinen Hosentaschen, um die Diebe irre zu führen.“

„Das ist ein kluger Einfall, mein Lieber.“

„Ha, diese dummen Berliner Diebe, die müssen früher aufstehen, wenn sie uns anführen wollen.“

„Es ist wirklich ein Glück, daß sie so dumm sind, mein theurer Baron.“

„Aber ich leugne doch nicht, meine Gemahlin, ich möchte wohl einmal hinten an meine Rocktaschen fühlen. Sie kommen mir so leicht vor, so, als wenn ich gar nichts darin trüge. Nur einmal.“

„Hüte Dich, mein Freund. Wir sind hier mitten im Gedränge, und dieses lauernde Augenpaar hier gleich links neben uns –“

„Ah, es ist dasselbe Gesicht, vor dem der brave Graf mich warnte.“

„Es läßt uns nicht aus den Augen. Mir graut beinahe vor ihm.“

„Ja, ja, meine Liebe, das ist sicher ein sehr gefährlicher Mensch. Aber ich möchte doch nur einmal – Die Rockschöße kommen mir so außerordentlich, so sonderbar leicht vor.“

„Aber fasse nur nicht hin.“

„Ah, Theure, ich habe sie doch noch?“

„Du bist ja kein Gardelieutenant, mein lieber Baron.“

„Aber ich muß wahrhaftig –“

„Himmel!“ schrie auf einmal der Baron von Goddentov mit einer so lauten und schrecklichen Stimme, daß in der weiten Eisenbahnhalle sicher kein Herz war, das nicht über den Schrei fast erstarrt wäre. „Himmel, liebe Frau! Diebe! Räuber! Ich bin bestohlen! Meine Uhr fort, meine Börse!“

Ein wohlgekleideter Herr stand an seiner Seite. Es war derselbe, vor dessen lauerndem Augenpaar ihn vorhin der Graf Schimmel und so eben seine Gemahlin gewarnt hatte. „Sie sind bestohlen, mein Herr?“

Der Baron war wie wahnsinnig vor Wuth, vor Schreck. Er sah nur Diebe, Räuber. „Das ist der Dieb!“ rief er. „Herr, Sie haben mir mein Geld, meine Uhr gestohlen!“

Er hielt mit seinen Hinterpommerschen Fäusten den wohlgekleideten Herrn fest. Der aber sagte ruhig: „Gemach, gemach, mein Herr; ich bin der Polizeihauptmann. Aber ich sah mit Ihnen aus dem Coupé einen Menschen steigen?“

„Das war der Herr Graf Schimmel. Wäre er nur noch hier!“

„Graf Schimmel hat er sich Ihnen genannt?“

„Graf Schimmel von Hengst auf Füllendorf.“

„Teufel, eine ganze Reihe von Namen! Und Ihr Name, mein Herr?“

Aber den Baron faßte wieder seine Wuth. „Sie frecher Mensch wollen hier noch gar den Inquirenten machen? Ein schöner Polizeihauptmann mögen Sie sein! Mit solchen verbrauchten Kniffen dummer Berliner Diebe kommen Sie bei mir nicht durch.“

Der Herr hatte unterdeß ruhig nach mehreren Seiten hingewinkt. In einem Augenblicke war eine Compagnie Gensd’armen, Polizeisergeanten, Schutzmänner um ihn, Alle in ihren Uniformen.

„Was befehlen der Herr Hauptmann?“

„Halten Sie alle diese Beamten für Diebe und Räuber?“ fragte der Polizeihauptmann den Baron.

Das konnte der arme Baron freilich nicht. „Aber Einer muß mir doch meine Uhr und Börse gestohlen haben!“ rief er.

„Gewiß, mein Herr, und wenn mich nicht Alles trügt, war es jener Graf Schimmel –“

„Wie, dieser charmante junge Mann? Von so altem Adel? Nimmer!“

„Erzählen Sie mir von ihm, mein Herr.“

Der Baron mußte erzählen. Der Polizeihauptmann lächelte. „Ah, mein Herr Baron, Sie werden jetzt überzeugt sein, daß die Berliner Diebe doch nicht so dumm, wie frech, sondern im Gegentheile eben so klug, wie frech sind.“

Aber der Baron sah es nicht ein. „Ein so charmanter junger Mann, und von so altem Adel! Nimmer!“ Dabei blieb er.


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