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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

II.

So lange der Baron und die Baronin von Goddentov in ihrem eigenen Wagen fuhren, saßen sie natürlich allein. Der Kutscher und der Bediente saßen draußen auf dem Bocke, und die Kammerjungfer war in dem zweiten Wagen bei dem Gepäcke. Eine Zeit lang saßen sie auch auf der Eisenbahn noch allein. Kammerdiener und Kammerjungfer mußten in der dritten Classe fahren. Der Baron und die Baronin nahmen Plätze in einem Coupé erster Classe.

„Man sitzt dort bequemer, als in der zweiten Classe, meine Gemahlin.“

„Und was höher anzurechnen ist, mein theurer Baron, wir laufen in der ersten Classe nicht Gefahr, mit Bürgerlichen auf einer Bank sitzen zu müssen.“

Sie blieben in der That bis Stettin ohne bürgerliche Gesellschaft, denn bis dahin blieben sie in ihrem Coupé überhaupt ohne alle Gesellschaft. Auch auf dem Stettiner Bahnhofe waren sie in ein Coupé geführt, in dem sie ganz allein saßen. Aber unmittelbar vor dem Abfahren des Zugs erhielten sie Gesellschaft. Ein sehr wohlgekleideter junger Mann stieg zu ihnen ein. Er hatte ein aufgewecktes, munteres und doch bescheidenes Aussehen. Auch sein Benehmen war ein bescheidenes.

„Der Schaffner hat mich hierher gewiesen,“ sagte er, bevor er einstieg. „Sollten Sie aber wünschen, allein zu sein, oder sollte meine Gesellschaft Sie sonst im Geringsten incommodiren, so würde ich mir ein anderes Coupé anweisen lassen.“

„Ein charmanter junger Mann,“ flüsterte die Baronin ihrem Gemahl in’s Ohr. „Und wie nobel er aussieht!“

„Ich bin ganz Deiner Meinung, meine Gemahlin. Er muß es auch uns angesehen haben, daß wir von gutem Adel sind, denn ich bemerkte schon auf dem Bahnhofe, wie seine Blicke uns mit einer gewissen Genugthuung verfolgten.“

„So lassen wir ihn zu uns einsteigen, mein theurer Freund.“

„Mein Herr, Ihre Gesellschaft wird uns sehr angenehm sein.“

„Sie machen mich sehr glücklich.“

Der noble junge Mann stieg ein; der Zug fuhr ab.

„Ich muß doch wissen, ob er von gutem Adel ist,“ sagte der Baron leise zu seiner Gemahlin. „Waren Sie schon in Hinterpommern?“ fragte er laut den Fremden.

„Nein,“ antwortete der junge Mann, „aber es soll ein gesegnetes Land sein.“ ,

„Ja, wir haben prächtige Fluren.“

„Ah, Sie sind aus Hinterpommern?“

„Baron von Goddentov auf Goddentov bei Goddentov.“

„Ein wohlklingender Name!“

„Sie sind wohl in Vorpommern zu Hause, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin aus Schlesien, Graf Schimmel von Hengst auf Füllendorf.“

„Ah, ah, Graf -?“

„Graf Schimmel durchweg. Wir haben in Schlesien viele solche sonderbare Namen: Pförtner von der Hölle, Henkel von Donnersmark. Im gewöhnlichen Leben sind sie Pförtner, Henkel u. s. w.“

„Ein curioses Land, dieses Schlesien.“

„Hat es auch Bildung?“ fragte die Baronin, sich in das Gespräch einmischend.

„O gewiß, meine Gnädigste. Der schlesische Adel steht fast dem hinterpommerschen gleich.“

„Sie sind sehr gütig, Herr Graf.“

„Ich versichere Sie, man merkt das nirgends mehr, als in Berlin, wo der Adel aus allen preußischen Provinzen zusammenströmt.“

„Sie sind in Berlin bekannt?“

„Ich wohne dort schon seit einer Reihe von Jahren.“

„Angestellt vielleicht?“

„Ich lebe unabhängig, ich verzehre meine Renten dort. Man kann das nirgends angenehmer, als in Berlin.“

„Ich denke doch, in Paris zum Exempel.“

„Französische Aufschneidereien, meine Gnädigste.“

„Aber,“ fragte der Baron, „machen Einem die Berliner Diebe das Leben nicht unangenehm in Berlin?“

„Die Berliner Diebe?“

„Man hört so viel ihnen.“

Der Graf Schimmel wurde sehr ernst, beinahe wichtig. „Ja, mein Herr Baron, die Berliner Diebe, das ist eine äußerst bedenkliche Sache.“

Der Baron erblaßte; selbst die Baronin wurde ängstlich.

„Sie meinen, lieber Graf?“ sagte der Baron.

„Man kann keinen Menschen genug vor ihnen warnen.“

Der Baron von Goddentov sah seine Gemahlin darauf an, ob es nicht rathsam sei, noch vor Berlin umzukehren.

„Diese Diebe sind also wirklich so gefährlich?“

„Es gibt keine frechere, verwegenere Sorte von Menschen.“

„Aber was sagt denn die Polizei dazu?“ fragte der Baron den Grafen Schimmel von Hengst auf Füllendorf.

„Die Polizei? Ah, Baron, nach dem, was die Polizei sagt, frägt kein Berliner Dieb.“

„Das sind ja fürchterliche Menschen.“

„Unmenschen, mein theurer Freund!“

„Es ist nur ein Glück dabei, meine Gnädigste.“

„Ein Glück, Herr Graf?“

„Sie sind eben so dumm, wie sie frech sind.“

„Und doch kann die Polizei nicht mit ihnen fertig werden?“

„Die Polizei kann nicht immer Alles, was sie will.“

Der Baron von Goddentov hatte wieder Muth gewonnen. „Ah, wenn sie dumm sind, dann werden wir schon mit ihnen fertig werden. Denn, was ihre Frechheit betrifft, in Hinterpommern haben wir auch Fäuste.“ Der Baron hatte in der That ein paar tüchtige Fäuste. Er hob sie mit Wohlgefallen empor. Die Baronin aber erröthete.

„Mein Gemahl!“ sagte sie leise verweisend.

Der Graf Schimmel fuhr fort: „Seien Sie indeß nicht so zuversichtlich, lieber Baron. Vor einem Berliner Diebe ist nichts sicher, keine Uhr, keine Tabatiere, keine Börse.“

Der Baron erblaßte wieder. Eine Tabatiere führte er nicht bei sich, wohl aber eine theure goldene Repetiruhr und eine schwere Börse. Er mußte unwillkürlich nach den Taschen langen, in denen er sie trug. Es waren zwei Hosentaschen.

„Freilich ist auch hierbei ein glücklicher Umstand,“ sprach der Graf weiter.

„Auch hierbei, lieber Graf?“

„Der Berliner Dieb ist dumm, wie ich Ihnen sagte; wenn man nur seine Sachen an einen Ort steckt, wo sie nicht gewöhnlich getragen werden, so findet er sie nicht.“

„Ah, ah, das wäre ja ein einfaches Mittel, ihnen zu entgehen.“

„So zum Beispiel hinten in den Rocktaschen wird kein Dieb in ganz Berlin eine Uhr oder eine Börse suchen.“

Dem Baron schien ein Licht aufzugehen. „Hm, hm, lieber Graf.“

„Höchstens nach einem Taschentuche suchen sie da, und auch dann nur, wenn man in der Straße vor einem Bilderladen oder im zoologischen Garten vor den Affen steht.“

Der Baron hatte seine goldene Uhr schon glücklich aus der Hosentasche hinten in seine Rocktasche gebracht. Es hatte ihm freilich Mühe gekostet. Er hatte ein sehr wohlgenährtes Bäuchlein, und um dieses schlossen seine Hosen sich sehr fest und stramm an, so daß es einem Diebe doppelt schwer müßte geworden sein, etwas aus den dort befindlichen Taschen zu nehmen.

Der Graf Schimmel fuhr fort: „Doch hätte ich beinahe etwas vergessen.“

Der Baron erschrak wieder. „Man ist dennoch seiner Rocktaschen nicht sicher?“

„O doch, wenn man kein Gardelieutenant ist.“

„Wie, lieber Graf?“

„Die Gardelieutenants pflegen ihre Börsen hinten in der Rocktasche zu tragen.“

„Das ist ja unbegreiflich.“

„Nicht so ganz. Die Gardelieutenants haben die Brust vorn hoch wattirt.“

„Ja, ja, die Uniformen.“

„Daher haben sie kein Gefühl in der Brust.“

„Kein Gefühl in der Brust?“

„Oder auf der Brust. Sie können daher auch nicht fühlen, wenn ihnen Jemand dahin faßt.“

„Das ist begreiflich.“

„Dagegen haben sie hinten an den Rockschößen der Uniform sehr enge Taschen, die zudem nach innen gehen.“

„Ich weiß es; ich habe selbst zwei Vettern, die Gardeofficiere sind.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_102.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2023)