Seite:Die Gartenlaube (1859) 098.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

erschreckten Neujahre (dessen Beglückwünschung einem einzigen Pariser Abenteurer 80,000 Pfund brachte: „des Pudels Kern, ihr hohen Politiker!“) nach Spitzbergen zu fliehen, wo das Jahr nur aus einem Tage und einer Nacht besteht, wollen wir uns Dufferin’s Yacht zu Nutze machen und uns wenigstens Island, Jan Mayen und den einzigen Lebenden auf Spitzbergen – ein Menschengerippe im offenen Sarge – einmal von ferne ansehen und arktischen Wind um die Nase wehen lassen.

Jenseits der Hebriden und Shetlands-Inseln verlor das Meer seine bleierne Todesfarbe und dunkelte in ein tiefes Sapphir-Blau gegen den Horizont, aus welchem eines Morgens plötzlich ein blasser, goldener Schein hervorschoß, bald sich verdichtend und abblassend zu einer silbernen Pyramide von Schnee: die südöstliche Spitze von Island.

Hier landete vor 995 Jahren der erste Flüchtling Norwegens, um den andern Edeln und Freien die Stätte zu bereiten. König Harold Haarfagar hatte alle anderen skandinavischen Fürsten ermordet, verbannt und sonst ausgerottet und ging dann den Freiheiten der nobeln Nordmänner selbst an’s Leben. Die Edelsten und Trotzigsten unter ihnen zogen es vor, zwischen dem unbekannten Eise des Nordens eine neue Heimath zu suchen. Sie fanden Island und erhoben diese traurige, eisumgürtete, von grimmiger Natur geschützte neue Welt zu einem Asyl und Seminar alter, skandinavischer Freiheit und Cultur, einer Republik hoher Bildung und Gelehrsamkeit, wo das erste große Werk in germanischer Sprache („Heimskringlu“) gedruckt, eine ganze, grandiose Cultur und Literatur gedacht und gedichtet ward und alle Bewohner außerdem Lateinisch schrieben und sprachen. Das Lateinische ist noch jetzt Conversationssprache der gebildeten Isländer beiderlei Geschlechts. Isländer entdeckten zuerst Amerika zu Anfange des elften Jahrhunderts. Die Zuversicht des Columbus, der im Februar 1477 persönlich in Reikjavik, der Hauptstadt Islands, gewesen war, um von den Isländern selber zu hören, daß man von hier aus schon vor Jahrhunderten Neufundland und selbst die Küste von Massachusetts erreicht habe, beruhte also auf sehr solider Grundlage.

Endlich näherte sich die Yacht des Lord Dufferin der Insel und lief in die Bucht Faxa Fiord ein, zehn geographische Meilen breit, eingerahmt von Pyramiden und Felsenwänden und Schneethürmen, durchleuchtet von der klarsten Luft und jungfräulichsten Reinheit des Lichtes, gegen welches Schatten und Farben in den schärfsten Umrissen und Contrasten hervortreten. Die Gebirgs- und Eisformationen hoch in der klaren, keuschen Luft stehen steil, still erhaben, in den reinsten Farbentinten, hier ein vierschrötiger Riese in einem Meere flammenden Goldes, dahinter eine Formation von Spitzen im dunkelsten Purpur; über beider Schultern glitzern Eis- und Schnee-Köpfe bald bläulich, bald rosig. Der Meeresrand steigt in grünen Erhebungen auf vor den felsigen Wänden und ist dünn bestreut mit moosig-grünen Häuschen, die aussehen, als hätte sie einst das Meer angespült, wie Ueberbleibsel einer vergessenen, verschollenen Cultur.

Selbst Reikjavik, die Hauptstadt, mit noch nicht tausend Bewohnern in Holzschuppen und vorstädtischen Grashütten, ausgestreut auf spröder, öder Lava-Ebene, ohne Spur von Baum oder Busch, hat nicht einen Zug von hauptstädtischer Miene, wohl aber desto reinere eigene. Vor den Kaufmannshäusern an der Küste flattern lustige Wimpel und auf die schweigenden Straßen, deren Lavastaub nie ein Wagenrad aufwirbelt, gucken zart gepflegte Blumen und warme, freundliche Menschengesichter zwischen weißen Mousselin-Gardinen. Ein Gefühl von Eleganz und Behäbigkeit duftet um sie her, einladende Gastfreundschaft, offene, energische Herzlichkeit, die den Fremden mit Sturm erobert und ihm schon am ersten Tage mehrere neue Heimathen bietet. Man kann ihnen keinen größeren Gefallen thun, als bei ihnen zu wohnen, tüchtig zu essen und zu trinken, große Humpen aus weißen Händen goldhaariger Mädchen anzunehmen, sie möglichst oft zu leeren und mit der glücklichen, cordialen Jovialität gebildeter Männer lateinisch zu sprechen. Poculiren in tüchtiger, altdeutsch massenhafter Gründlichkeit und lateinisch dazu disputiren – scheint eine Hauptforce der Isländer zu sein. Wo man auch hinkommt, überall wird sofort ernsthaft poculirt und scherzhaft gesprochen. Zum Abschiede wird der Fremde von den lieblichsten Töchtern und der feinsten Mutter ganz derb und ungenirt auf die Lippen geküßt.

Natürlich gibt’s auch Armuth, aber nirgends zerlumpte Noth, wie in unseren großen Städten. Die Armen leben zwischen aufgehäuften, mit Moos ausgestopften Lavablöcken und schlafen in Nestern von Seegras, obgleich sie vielleicht davon leben, auf der benachbarten grünen Insel Vedey den Eidergänsen die Daunen wegzunehmen. Sie thun dies nie eher, als bis die Gänse ihre Jungen ausgebrütet, groß gezogen und die kostbaren Nester verlassen haben. Die Alten wattiren sie mit ihren eigenen, feinsten, weichsten Unterdaunen aus, die sie sich aus der Brust reißen. – Andere Häuser bestehen aus Balkenwerk von Wallfisch-Rippen mit Fleisch und Bein von Seegras oder Moos, isländischem Moos, das viele civilisirte Menschen als Medicin gegen die Folgen ihrer Civilisation trinken.

Die Isländer sind das herzreinste, simpelste, unschuldigste, vertraulichste Völkchen von der Welt, ganz unbekannt mit Verbrechen, Diebstahl, Völlerei, Grausamkeit oder nur Inhumanität, ohne ein Gefängniß, ohne einen Galgen, ohne Soldaten, ohne Polizei, noch Repräsentanten der idealsten Patriarchenzeit: „aufrichtig und vollkommen, Uebles meidend und ohne Falsch in ihrem Herzen.“ Unser Lord spricht mit besonderem Enthusiasmus von den isländischen Damen. Schon ihre nationale Kleidung ist hübsch, wenigstens charakteristisch: schwarzseidenes Häubchen, naiv auf die eine Seite gedrückt, mit langen Troddeln an den Schultern herab, oder zum Ausgehen weißer Kopfaufsatz, der sich vom Wirbel in einem Bogen nach vorn krümmt, schwarzes Leibchen mit silbernen oder goldenen Haken zugeheftet, darüber im Winter niedliche Tuchjacke mit silbernen oder goldenen Knöpfen, um den Hals geriffelter Sammetkragen mit Silber- oder Goldschnur, um die Taille silberner oder goldener, ornamentirter Gürtel, der die unten fünffach band- oder schnurenbesetzten Röcke festhält, Aermel enganschließend, so daß die schönen Rundungen der Arme[WS 1] sichtbar bleiben, um die Achseln etwas farbiger und eingefaßter Besatz.

Durch steinerne und höckerige, meilenweit gefrorne Lavameere ohne eine Spur von Grashalm, durch endlose, graue, todte Wüste ohne Weg und Steg – allerdings blos 35 englische Meilen in gerader Linie – wand sich die berittene Gesellschaft unseres Lords mühsam bis zu dem berühmten Thingvalla, dem Sprechsaal, dem Parlamentshause der alten, freien Republik Island, eine zehn Meilen breite, rings von Felsen eingefaßte lichte, grüne Ebene, hundert Fuß tief unter der kahlen, steinernen Umgebung von unzähligen steilen, dunkeln Schluchten und Abgründen durchrissen, mit einem großen klaren See am Südende. Beinahe in der Mitte dieser tausendfach durchschluchteten Ebene erhebt sich ein ganzes, ovales Stück, 200 Fuß lang und 50 breit, ringsum von tiefen Abgründen und Spalten abgetrennt und nur an einer Stelle zugänglich. Auf diesem Stück Erde versammelte sich das Parlament der isländischen Republik und regierte Jahrhunderte in Freiheit und Frieden, während Europa unter Feudal- und Despotenfehden blutete und verwilderte. Noch jetzt sieht man die drei kleinen Hügel, auf welchen die drei Häupter der Republik dem Parlamente vorsaßen und Recht sprachen. Während der Parlamentszeit wohnten hier die Volksvertreter in Zelten, und an den Ufern des Flüßchens Oxeraa dampften lustige Eß- und Trinkbuden. Man versammelte sich im Freien und berieth das Wohl des Volks unmittelbar Angesichts des grünen Thales, der Sonne und des Himmels. Jetzt sitzen melancholische Raben auf dem „Hügel des Gesetzes“ und auf dem Grase weiden die Schafe des dänischen Predigers. Drei Jahrhunderte blühte die isländische Republik in Freiheit, literarischer und socialer Kraft und Fruchtbarkeit. Endlich veruneinigten sich die Herren des Parlaments, intriguirten gegen einander und riefen einen Staatsretter aus Norwegen herbei. Im Jahre 1261 wurde die Republik Island der norwegischen Krone zugeschrieben, etwa ein Jahrhundert später der dänischen, die bis heute noch ihren Gouverneur dort dafür besoldet, daß er den Isländern Steuern und Abgaben abnimmt.

Völker, welche sich nicht unter sich vertragen, sich einander die Freiheit nicht gönnen, wegen Popularität und Einfluß eines Andern neidisch werden, rufen immer früher oder später einen „Staatsretter von außen“ herbei, oder eifersüchteln so lange, bis Einer von ihnen alle Andern zusammenhaut und zum Despoten wird. Island ist von den Folgen dieser Krankheit, an der alle freien Völker zu Grunde gingen, blos deshalb im Aergsten verschont geblieben, weil die Bevölkerung dünn, von eigener alter Civilisation getragen, gutherzig und durch Eis und Ferne vor dänischer Bedrückung geschützt

  1. Vorlage: Armee
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_098.jpg&oldid=- (Version vom 16.2.2023)