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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Ein Parvenu des vorigen Jahrhunderts.[1]
Von Ludwig Storch.

Graf Gotter.

Als Kind war ich von äußerst lebhafter Phantasie, und sie machte mir zuweilen tolle Streiche; sie führte mir Traumerscheinungen vor. Nichts aber beflügelte sie mehr, als die Erzählungen meiner Mutter von ihren Vorfahren, von bedeutenden Männern aus der Familie Gotter, deren Tochter sie war. Da waren es vorzüglich drei, von welchen sie prächtige Geschichten zu erzählen wußte, und unter diesen tauchte einer wie ein Riese aus dem flammenden Abendrothe untergegangener Tage hervor, dessen Haupt von einer Glorie umglänzt war.

Der erste dieser Männer war eigentlich der Stammvater der Familie, der Oberhofprediger und Generalsuperintendent Johann Christian Gotter zu Gotha, unter den Herzögen Ernst dem Frommen und Friedrich I. von Gotha und Altenburg einer der vornehmsten und angesehensten Männer des Landes, welcher den prachtliebenden Herzog Friedrich II. getauft hatte. Der Zweite, eben der phantastisch geschmückte Halbgott, war der Graf Gustav Adolph von Gotter, des Vorigen Enkel, welcher als Oberhofmarschall und Minister Friedrich’s des Großen in Berlin gestorben war; der Dritte endlich der Dichter Friedrich Wilhelm Gotter, der Jugendfreund Goethe’s, Urenkel des Generalsuperintendenten und als Geheimer Secretair in Gotha gestorben. Der Vater meiner Mutter war ebenfalls Urenkel jenes Ahn gewesen und hatte als Knabe mit seinem Vater, Rath und Amtmann Gotter zu St. Blasien-Zella, Geschwisterkindsvetter des Grafen, diesen in Molsdorf besucht. Molsdorf! der bloße Name hatte für mich etwas Zauberhaftes. Von seinem Klange entflammt, baute meine Phantasie im Nu mir Schloß und Garten eines Kalifen aus „Tausend und eine Nacht“ vor die berauschte Seele. Ich kann nicht sagen, daß ich enttäuscht war oder daß die Wirklichkeit in irgend einer Weise hinter der Schöpfung meiner Phantasie zurückgeblieben wäre, als auch ich als Knabe Schloß und Garten zu Molsdorf an der Hand meiner Mutter zum ersten Male betrat; ich zitterte vor Aufregung und wagte kaum zu athmen. Die reizende Schöpfung meines berühmten Ahnherrn war für mich eine heilige Stätte, und ich hatte ja noch nichts Aehnliches gesehen.

Friedrich der Große ist als „alter Fritz“ zum mythischen Volkshelden geworden und auf dem Schimmel mit dem Krückstocke in der Hand eine typische Figur. Nur noch Luther genießt im nördlichen Deutschland gleicher Ehre. Daran kann man ermessen, welche glänzende Höhe in den Ueberlieferungen einer bürgerlichen Familie einer ihrer Vorfahren einnehmen muß, der sich zum Grafen und Minister des großen Königs emporgeschwungen, und an welchen dieser eine seiner poetischen Episteln gerichtet hat. Wahrlich, der Graf Gotter war in meiner Mutter und meinen Augen selbst eine halb mythische Gestalt. Und was mir etwa noch zu seiner Vergötterung gefehlt hätte, das fügte eine Base in Meiningen, ebenfalls eine geborene Gotter, Tochter eines Justizamtmannes in Coburg, hinzu. Graf Gotter war eben der Stern aller Abkömmlinge dieser Familie.

Und in der That, dieser Parvenu war ein merkwürdiger Mensch, ein treuer Repräsentant seiner Zeit, und es ist sehr zu beklagen, daß er uns keine Denkwürdigkeiten hinterlassen hat, sie müßten ein guter Spiegel der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sein und ihn uns als veredelten Casanova vorführen. So sind leider die öffentlichen und Familiennachrichten über ihn dürftig, inzwischen geht doch auch aus ihnen schon sein Bild ziemlich klar hervor. Nie hat ein Mensch in den sächsisch-ernestinischen Landen durch seine Carriere und geistigen und körperlichen Eigenschaften größeres Aufsehen erregt; nie waren in Thüringen die Augen der Vornehmen wie der Geringen in gleicher Weise auf einen bürgerlichen Emporkömmling gerichtet. Und doch war dieser Mann kein Feldherr, kein Gelehrter, kein Dichter, kein Schauspieler, kein Sänger; er war kaum ein bedeutender Diplomat zu nennen; er war nur ein höchst liebenswürdiger und gewandter Gesellschafter, ein Liebling der vornehmsten Frauen am deutschen Kaiserhofe Karl’s VI. und ein brauchbarer Hofmann am Hofe Friedrich des Großen, oder, um es mit dem rechten Worte zu sagen, er war der vornehmste und feinste Aventurier seiner an Glücksrittern aller Art so reichen Zeit. Wie selten bei einem Menschen wuchs Gotter’s ungewöhnliches und glänzendes Schicksal aus seiner ausgezeichneten Persönlichkeit heraus.

Gustav Adolph Gotter war der einzige Sohn eines verdienstvollen Beamten, welcher zur Zeit der Geburt dieses Sohnes (1692) Kammerrath, später Kammerdirector des Herzogs Friedrich II., prächtigen Andenkens, in Gotha war, und erhielt eine sehr sorgfältige und vornehme Erziehung. Auf den Universitäten Jena und Halle zeichnete er sich durch geistige und körperliche Vorzüge so aus, daß ihm die schmeichelhaftesten und aufmunterndsten Zusicherungen seines Landesherrn zukamen. Wirklich soll er, der Familientradition nach, einer der schönsten und liebenswürdigsten jungen Männer gewesen sein, und die von ihm vorhandenen Portraits aus späterer Zeit können als Bestätigung dienen. Schon als Student in Jena und Halle hielt er sich nur zu Studiengenossen aus den höheren Ständen; war er doch selbst aus dem höheren thüringischen Beamtenstande hervorgegangen. Seine Mutter war nämlich die Tochter des schwarzburg-sondershausenschen Kanzlers von Happe. So schloß er in Halle ein inniges Freundschaftsbündniß mit dem nachmaligen hannoverschen Minister Freiherr Gerlach Adolph von Münchhausen, welcher sich als Curator der neuen Universität Göttingen unsterblichen Ruhm um ihre Blüthe erworben hat. Gerade dieser Freundschaftsbund wurde für Gotter’s Lebensgeschick auf eigenthümliche und fast romantische Weise bestimmend.

Nach absolvirten Studien machte Gotter die damals allen jungen Männern von Stande, welche sich poussiren wollten, unerläßliche Reise durch Holland, England und Frankreich. Zurückgekehrt, erhielt er einen Besuch seines Freundes Münchhausen, und erbat

  1. Medaillon aus Storch’s Denkwürdigkeiten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_093.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2023)