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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

ganz und ausschließlich nur auf den Gegenstand zu fixiren, den er eben vornahm. Verbindet sich mit dieser Kraft der Wille, jede Stunde zu benutzen, mit irgend einer nützlichen und nöthigen Thätigteit auszufüllen, so ist die enorme Summe von bedeutenden Thaten und Hervorbringungen erklärt, durch welche Geister wie Napoleon, Humboldt u. A. und so auch Mendelssohn die Welt in Erstaunen setzten.

Was nun den Werth der Mendelssohn’schen Werke betrifft, so darf man seine besten unbedenklich unter die besten überhaupt rechnen, welche bis heute die musikalische Welt kennen gelernt hat. Eine Ouvertüre, die das Ohr durch reizendere Klänge, das Gemüth durch tiefere Gefühlseindrücke, die Einbildungskraft durch originellere Bilder erfreute und fesselte, als es seine Ouvertüren zum „Sommernachtstraum“ und zur „Fingalshöhle“ thun, ist unserer Empfindung nach weder vor, noch neben, noch nach ihm erschienen. Ein Oratorium, das man an Gediegenheit und Wirkungskraft über den „Paulus“ setzen dürfte, wüßten wir nicht zu nennen. Und so finden sich unter allen seinen Compositionen Stücke, welche bis heute zu den vortrefflichsten gehören und nicht übertroffen sind.

Aber nicht von allen, ja nicht einmal von der Mehrzahl derselben ist das zu behaupten. Und das wird erklärlich, wenn wir wissen, daß er nicht blos schuf, wenn der Genius in ihm glühte und ihn zwang, sondern daß er auch schrieb, wenn jener nicht aufgelegt war. Mendelssohn theilte nämlich den Glauben, daß der Künstler keinen Tag ohne Pinselstrich vorüberlassen dürfe, um nicht aus der technischen Uebung zu kommen. War er nun zwar im Ganzen sehr streng gegen seine Arbeiten, hielt er manche geringere darunter zurück, so konnte es doch nicht fehlen, daß die formelle Vollendung, welche er jeder seiner Compositionen eben wegen seiner großen technischen Ausbildung zu ertheilen wußte, ihn zuweilen über ihren höheren ästhetischen Werth täuschte, und er mehr hineingeschaffen zu haben glaubte, als Andere davon herauszuhören vermochten. Es versteht sich, daß der Begriff „geringer“ bei seinen Werken nur im Vergleich mit seinen besten Werken gelten soll. Denn im gewöhnlichen Sinn hat er keine geringen Werke veröffentlicht. Seine relativ geringsten haben immer noch mehr Werth, als manche neuere, deren Urheber es ihm gleich zu thun oder ihn gar zu übertreffen meinen. Was Mendelssohn ferner und besonders hoch stellt, ist die Eigenthümlichkeit seiner Musik, die er noch zu offenbaren vermochte, nachdem so viele große Meister alle Seiten der musikalischen Kunst und alle Stylweisen bereits ausgebeutet und erschöpft zu haben schienen. Es ist Mendelssohn kein Meister nachzuweisen, dessen Weise er genau nachgeahmt hätte. Seine Gedanken sind durchaus nur seinem eigenen Kopfe entsprungen, tragen nur sein und keines andern Componisten Gepräge. Die Eigenschaften seiner Compositionen kann man etwa folgendermaßen charakterisiren: Feuer, aber ein verklärtes, nicht jenes wilde, rohe, fessel- und formlos nach allen Seiten hin ausschlagende und prasselnde; Schwung, der in mehrfachen Graden sich steigert, niemals aber in kreischenden Lärm überschlägt; Zartheit und Anmuth, ohne Süßlichkeit; Humor in mäßigem Grade, aber ohne launenhafte plötzliche unvermittelte Uebergänge; ein elegisches Element; viel feine polyphon ausgearbeitete Miniaturzüge; eine blühende Colorirung der Zeichnung, und manche erst durch ihn gebrachte originelle Instrumentalmischungen und Effecte; eine klare, überall faßliche Construction der Gedanken, durch festgehaltene Entwicklung aus wenigen Hauptzügen (thematische Arbeit) leicht und übersichtlich ausgeprägte Form; und endlich – Adel der Gedanken.

Man kann Mendelssohn in gewissem Sinn den letzten Repräsentanten und Anhänger der klassischen Kunstmaximen nennen. Und das muß hoch angeschlagen werden in einer Zeit, wo das Festhalten daran in der Meinung einiger Nachfolger schon als ein zweifelhaftes Verdienst, ja wohl gar als Beweis mangelnder Genialität zu gelten begann, wozu Beethovens letzte Werke den vorzüglichsten Anlaß gaben, die aus dem Gebiete des Classischen heraus schon, wenn auch verhältnißmäßig nur noch in seltenen Momenten, in das Hyperromantische hinüber strebten und streiften. Daher erklärt sich die oft durchstrittene Frage: ob Mendelssohn ein Genie oder nur ein bedeutendes Talent gewesen sei. – Es ist hier nicht Raum zu einer gründlichen Untersuchung dieser beiden so viel gebrauchten Worte. Nur bemerkt sei, daß der Unterschied zwischen beiden, wenn ein solcher überhaupt existirt, noch nirgends so bestimmt und deutlich angegeben ist, um einen sichern Gebrauch davon bei Abschätzung der Meister und ihrer Werke machen zu können. Hat doch einmal ein Kritiker sogar Goethe ein großes Talent, aber kein Genie genannt! Wir meinen: ein Künstler, der, wie Mendelssohn, so viele Werke geschaffen, die noch heute, also nach 30 Jahren, in ungeschwächter Lebenskraft und Liebenswürdigkeit erscheinen, die heute noch Kennern und Laien in allen musikalischen Ländern genußreiche Stunden schenken – ein solcher Künstler muß jedenfalls einen Geist von ungewöhnlicher Kraft und Schönheit besessen haben, und damit wollen wir zufrieden sein. Welche allgemeine Anziehungskraft seine Compositionen besitzen müssen, geht am schlagendsten aus den vielen Nachahmern derselben hervor. Selbst Rob. Schumann, der nächste und begabteste Nachfolger, hat sich Mendelssohn’s Einflusse nicht ganz zu entziehen vermocht.

Was Mendelssohn als Orchesterdirigent geleistet, steht in zu gutem Andenken, um einer breiteren Auseinandersetzung zu bedürfen. Die Sicherheit seiner Taktgebung, das Eindringen in die feinsten Züge der Meister, die Gabe, sie durch Rede, Haltung, Auge und lebendiges Spiel seines geistreichen Antlitzes der ganzen Masse der Ausführenden gleich einem elektrischen Strome mitzutheilen, steht unübertroffen da.

Auch als Claviervirtuos zählte er längere Zeit zu den ersten mit. An Fertigkeit wurde er später von Einigen übertroffen, an geistreicher Wiedergabe der Intentionen hingegen ist er von Wenigen erreicht worden. Wahrhaft bewundernswerth war, was er im Prima vista-Spielen (vom Blatt spielen) zu leisten vermochte. Die vollständigsten Partituren las und spielte er, ohne zu stocken, beim ersten Mal, als läge ein einfacher und leichter Clavierauszug vor ihm.

Es gibt eine Anzahl von Sätzen, die von Geschlecht zu Geschlecht als unbestreitbare Wahrheiten übernommen und ohne Prüfung hartnäckig fortgeglaubt werden, so viele offen vorliegende Thatsachen auch das Gegentheil davon predigen. Darunter gehört unter andern der Ausspruch, daß das wahre Talent sich Bahn breche durch alle Hindernisse, ja, daß diese zur Förderung desselben nöthig seien, indem ohne ihre treibende Kraft die Anlagen ihre volle Ausbildung nicht gewonnen haben würden.

Die kurze Skizze von Mendelssohn’s Leben straft wenigstens die Allgemeingültigkeit dieser Meinung gründlich Lügen. Von ihm hielt das Schicksal alle hindernden Umstände sorgfältig fern, und es ist nicht abzusehen, wie er bei Armuth, mangelnder Lehre und sonstigen widerwärtigen Verhältnissen sein angebornes Talent auf eine höhere Stufe getrieben haben sollte. Man vergißt, daß gleiche Umstände auf verschiedene Charaktere unmöglich gleiche Wirkungen hervorbringen können. „Was dem Einen nützt, schadet dem Andern“, ist auch ein Allgemeinspruch, jedenfalls ein begründeterer als der obige. Welche Hindernisse haben denn Raphaels, Goethe’s u. A. Genie befördert? Daher sagte Letzterer auch von Tiedge: „Und ich wollte wetten: wenn der gute Tiedge ein besseres Geschick hätte, so hätte er auch bessere Gedanken.“

Ebenso wie den vorigen, widerlegt das Beispiels Mendelssohns einen andern, bei Vielen in hohem Ansehen stehenden Satz, nämlich den: der Künstler findet Anerkennung erst nach seinem Tode. Von Angriffen des Neides blieb freilich auch er nicht verschont, im Ganzen aber hat er den Ruhm noch bei seinen Lebzeiten in vollen Zügen genossen. Und das ist leicht erklärlich. Seine musikalischen Gedanken und Bilder waren zwar immer neu und eigenthümlich, aber sie erschienen überall in klaren, durchsichtigen und faßlichen Formen. Er componirte nach den besten, allgemein anerkannten Grundsätzen der Kunst, nicht nach neuen Systemen, die in ihren Principien noch zweifelhaft, in ihrer praktischen Ausführung noch unreif sich vorgestellt hatten. Wir wollen das Hinausstreben über die Kunstideen einer Gegenwart nicht verwerfen. Es wäre ja ohne diese bewegende Kraft niemals ein Fortschritt bewirkt worden. Wird das wahre Genie von ihr getrieben, so kann sie Großes leisten. Da sie aber auch von jedem Aftergenie als das Agens seiner unreifen Geburten vorgeschoben wird, da sie selbst das wahre Genie viel öfter auf falsche, als auf richtigere und bessere Wege führt, wie die Geschichte aller Künste lehrt: so ist das Publicum nicht zu schelten, wenn es seinem natürlichen Gefühle folgt, Productionen, die ihm nicht behagen, mit Mißtrauen empfängt, zumal sich solche wohl gleich als überschreitende, aber nicht eben so entschieden auch als schönere darstellen. Daher muß es Geister geben, die inmitten solcher gährenden Epochen das anerkannt Gute festhalten, und zeigen, daß auch innerhalb der gewohnten Formen immerfort neue und schöne Gedanken erzeugt werden können. Zudem ist es noch eine Frage, welche von beiden Strebungen die schwierigere ist, ob die,

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