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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

seines Vaters, theils allein, einen großen Theil von Deutschland, Frankreich, England, Schottland und Italien.

Die Productivität wurde frühzeitig in ihm lebendig. Als er sechzehn Jahre alt war, hatte er bereits drei Quartette für Pianoforte, Violine, Viola und Cello, eine Sonate für Pianoforte, sieben Charakterstücke für dasselbe Instrument, zwölf Gesänge für eine Singstimme mit Pianoforte, die Hochzeit des Camacho, komische Oper in zwei Acten, veröffentlicht. Im Ganzen sind sechsundsechzig Werke mit Opuszahl und fünfzehn ohne Angabe derselben im Druck erschienen, darunter viele sehr umfangreiche, wie seine beiden Oratorien „Paulus“ und „Elias“, seine Symphonien etc.

Im Herbst 1833 übernahm Mendelssohn die Stelle des städtischen Musikdirektors in Düsseldorf. 1835 folgte er dem Rufe als Dirigent der Leipziger Gewandhausconcerte. Am 4. October dirigirte er zum ersten Male daselbst. Von da an begann für Leipzig die Glanzperiode seiner Concerte und musikalischen Zustände überhaupt. Als Anerkennung seiner Verdienste erhielt Mendelssohn von der Universität zu Leipzig das Doctordiplom und von dem Könige von Sachsen den Titel als sächsischer Capellmeister. 1837 verheirathete er sich mit Cécile Jeanrenaud, der Tochter eines reformirten Predigers zu Frankfurt a. M. Der Ruf als königlich preußischer Generalmusikdirector zog ihn nach Berlin, wo er die Compositionen zur Antigone, Athalja, zum Sommernachtstraum und Oedipus lieferte und aufführte, und schien ihn Leipzig für immer zu entführen. Indessen sagten ihm die Verhältnisse daselbst, trotz der königlichen Gunst, der er sich zu erfreuen hatte, nicht zu; er erbat und erhielt die Erlaubniß, nach Leipzig zurückzukehren. Bei der Einrichtung des Leipziger Conservatoriums war er thätig und zog durch seinen Namen viele Schüler herbei.

Mit seinem steigenden Rufe vermehrten sich die Einladungen zur Betätigung an großen Musikfesten; so dirigirte er in London, Birmingham, Köln, Aachen, Lüttich, Frankfurt, Braunschweig, Weimar u. a. O. m. Am öftersten reiste er nach England. Er war sieben Mal dort, führte seine Hauptwerke, Ouvertüren, Symphonien, Oratorien, zumeist in den philharmonischen Concerten selbst auf, spielte auch darin, so wie am Hofe vor der königl. Familie mehrere seiner Claviercompositionen.

Den Sommer 1847 wollte Mendelssohn zur Erholung in Vevey zubringen. Der Tod seiner Schwester, die er zärtlich liebte, verleidete ihm den Plan. Doch ging er einige Zeit nach Baden, dann nach Laufen, endlich nach Interlaken. In einer kleinen Dorfkirche, nahe dem Brienzer See gelegen, improvisirte er vor einigen Freunden wahrscheinlich das letzte Mal in seinem Leben auf der Orgel. Denn schon zogen leise Todesahnungen durch seine Seele, diesmal keine vagen Einbildungen, sondern wohl schon Vorboten der nahenden Krankheit, die ihn nach seiner Rückkehr nach Leipzig befiel.

Am 9. October des Nachmittags war er in einem befreundeten Hause zum Besuch und accompagnirte eben einige Stücke aus seinem „Elias“, als ihn ein plötzliches Unwohlsein überfiel, daß er nach Hause gehen mußte. Heftiger Andrang des Blutes nach dem Kopfe, Erstarrung der Hände und Füße traten ein. Kräftige, schnell angewandte Mittel des Arztes schienen geholfen zu haben. Es war leider Täuschung. Am Nachmittage des 28. Oct., nachdem er mit seiner Gattin einen Spaziergang gemacht, traf ihn ein heftiger Nervenschlag. Zwar erhielt er nach einem Aderlasse das Bewußtsein wieder, konnte aber nur in abgebrochener Rede über heftige Kopfschmerzen klagen. Dazwischen hatte er ruhige Momente, auch zuweilen sanften Schlaf. Aber am 3. November wiederholte sich der Schlaganfall, und von diesem Momente an kannte er Niemand mehr. So lag er, umgeben von seiner Familie und einigen Freunden, bis zum 4. November, wo er Abends 9 Uhr seine Seele mit einem tiefen Seufzer aushauchte. – Leipzig ehrte die großen Verdienste des Dahingeschiedenen durch die allgemeinste, tiefste Theilnahme. Ein imposanter Trauerzug und eine ergreifende Todtenfeier gab Zeugniß davon.

Der kurzen Lebensskizze mögen einige Betrachtungen folgen.

Wurde Mendelssohn vom Leben Alles gewährt, was ein Talent schnell bilden kann, so hatte ihm die Natur alle Eigenschaften zu einem großen Künstler in seltenem Verein geschenkt. Ein scharfes Begriffsvermögen machte ihm alles Lernen zum leichten, angenehmen Spiel. Dazu kam ein unglaublich treues Gedächtniß. In Berlin – um nur ein Beispiel anzuführen – hatte er dem Flötisten Guillon ein Concertstück auf dem Pianoforte begleitet. Acht Tage nachher wurde dieser in einer Gesellschaft aufgefordert, es zu wiederholen, was er abschlug, da er die Begleitungsstimme nicht bei sich habe. Mendelssohn erbot sich, dieselbe aus dem Gedächtniß zu spielen, und that es richtig von Anfang bis zu Ende, zur höchsten Verwunderung des Franzosen. Die schwierigsten Sachen von Bach, Beethoven, Hummel etc. spielte er öffentlich ohne Noten, und fast alle größeren Werke, wie die Opern von Gluck, Mozart, Beethoven, Weber u. A. hatte er so fest im Gedächtniß, daß er sie auswendig am Clavier mit völliger Sicherheit begleitete. Eben so glücklich waren seine Anlagen zu körperlichen und mechanischen Thätigkeiten. Zu welcher Virtuosität er es auf Clavier und Orgel gebracht, ist bekannt. Auch Violine und Viola spielte er. Und nie hat es für ihn langer und anstrengender Uebungen dazu bedurft. Die Fertigkeiten bildeten sich bei ihm in reißender Schnelle und wie von selbst aus.

Die einzige Gefahr, welche ihm in der Jugend als Componist drohte, war sein Hauptlehrer in der Composition, Zelter. Zwar wirkte dieser auf die Ausbildung des Kunstverstandes und mehr noch auf die Gewandtheit in allen contrapunktischen Künsten sehr ersprießlich auf den Knaben, aber in Hinsicht auf die blühende Erfindung und die freieren Formen der Musik war der alte Maurermeister weit hinter seiner Zeit zurückgeblieben, nicht fähig, die Werke eines Beethoven, C. M. v. Weber u. A. vollkommen zu begreifen, zu schätzen und seines Schülers Richtung und Streben darauf zu befördern. Ein weniger energischer und selbstständiger Geist wäre durch die markige Entschiedenheit der Ansichten und die Autorität eines solchen Lehrers in dem veralteten Style, den dieser allein liebte, gefangen worden und geblieben. Auch sind Mendelssohn’s früheste Compositionen nicht frei von diesem Einflusse. Aber er wußte das Brauchbare des Lehrers von dem Antiquirten desselben gar wohl zu unterscheiden und ging bald seinen eigenen und besseren Weg.

Die große Anzahl von bedeutenden Werken, welche er in seinem kurzen Leben zu Tage gefördert, würde schon merkwürdig sein, wenn er sich in stiller Muße und ausschließlich nur der Composition überlassen hätte. Wahrhaftiges Erstaunen muß aber diese Fruchtbarkeit erwecken, wenn man an die mannichfaltigen anderen Thätigkeiten denkt, denen er sich unterzog, an die vielen Reisen, die er als Knabe, Jüngling und Mann unternahm, an die vielen Directionsgeschäfte bei auswärtigen Musikfesten und bei den Leipziger Gewandhausconcerten, an die Gesellschaften, namentlich musikalische, denen er sich gern hingab, an die Besuche so vieler Reisender, die ihn persönlich kennen lernen wollten, an die vielen Einsendungen junger Componisten, die um sein Urtheil über ihre Versuche baten, an die fast ununterbrochen einlaufenden Briefe, von denen er, gleich Humboldt, keinen unbeantwortet ließ.

Dabei ist noch zu bemerken, daß er jene Schnelligkeit und Leichtigkeit des Schaffens und jene Sicherheit des Hinwurfs seiner Conceptionen, welche z. B. einem Mozart verliehen war, keineswegs besaß. Er änderte viel an seinen Compositionen, arbeitete manche ganz um und verwarf zuweilen ganze Stücke. Er hat eine ziemliche Menge von Manuskripten hinterlassen, die seinem Willen nach niemals in die Oeffentlichkeit gelangen sollten. Indessen verschwindet das Räthselhafte dieser außerordentlichen Productivität bei näherer Kenntniß seines Wesens. Zuerst besaß er von frühester Jugend an eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit und Reizbarkeit wie des Geistes so des Körpers. Er konnte keinen Augenblick unbeschäftigt bleiben; der Thätigkeitstrieb war in außerordentlichem Grade in ihm vorhanden; – so war ihm das Arbeiten zur gebieterischen Nothwendigkeit geworden. Und obwohl von zartem Organismus, war er doch einer außerordentlichen Ausdauer fähig. Nun sind ja die Geistesoperationen nicht an die Stube und den Arbeitstisch gebunden; das geistige Werkzeug, sein Gehirn, hat der lebende Mensch immer bei sich, er kann also seine Phantasie und seine Gedanken überall, an jedem Ort und zu jeder Zeit, in’s Spiel setzen. So arbeitete Mendelssohn oft in Momenten, wo Andere ihn scheinbar unbeschäftigt glaubten. Wie bei Mozart, waren daher auch bei Mendelssohn die Reisen keine Abhaltungen vom Componiren. Sie beförderten vielmehr dasselbe, und Manches, was er zu Hause schnell niederschrieb, hatte er fertig im Kopfe mitgebracht, da sein eisernes Gedächtniß ihm Alles, was er behalten wollte, treu aufbewahrte.

Die Haupteigenschaft jedoch, welche ihm so viele und so vielerlei abwechselnde Thatäußerungen möglich machte, war die Gabe und Kraft, sich, wo und wann immer er wollte oder mußte, augenblicklich,

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