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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

des St. Gotthardt und die schneeumhüllte Pyramide des Monte Rosa, und in ihm leuchtete die strahlende, warme Sonne Italiens. Und doch war es schon Anfang November in der Zeitrechnung des Kalenders, während die Natur einen Frühlingstag zu feiern schien.

Ich stieg auf die oberste Gallerie des Domes. Unter mir lag die große, prächtige Stadt, welche die Italiener mit Recht und mit Stolz „la grande“ nennen, Mailand.

Erlassen Sie mir heute die Schilderung dieses unvergleichlichen Rundblickes auf den Marmorwald von Statuen, gothischen Thürmen, Kirchen, Denkmälern und Thoren! Ich will Ihnen nicht die Stadt, sondern nur deren Zustände, das Leben schildern und nur vorübergehend das Nöthigste berühren.

Welch’ ein Gemisch von Straßen, Palästen, Zinnen und stolzen alten Gebäuden! Dort das graue, mit Mauerzinnen gezierte alte Gebäude, halb Castell, halb Caserne, ist das alte Schloß der Mailänder Erzbischöfe und Herzöge, der Visconti und der Sforza. Hier wohnten Giovanni und Galeazzo Visconti, die Mäcene der Wissenschaft und Kunst, die Freunde Petrarca’s, welche den Bau des Marmordomes begannen; hier ließ sich der tapfere Franz Sforza, der Eidam des letzten Visconti, zum Herzoge von Mailand krönen; hier schwelgte sein Sohn Galeazzo Maria, hier empfing einer seiner Nachkommen vom deutschen Kaiser Mailand als Lehn. Das alte Schloß hat eine reiche und große Vergangenheit. Jetzt ist es eine österreichische Caserne, wie das alte Feudalschloß der Scaliger bei Verona, und dient als Befestigungswerk gegen die Stadt, wenn sich diese gegen die österreichische Herrschaft empört.

Das altersgraue Gebäude steht auf einem weiten, wüsten Platze. Bis zum Jahre 1849 war der große Platz mit prächtigen Baumgruppen und Alleen bedeckt. Als Radetzky zur Schlacht bei Novara auszog, ließ er die stattlichen Bäume sämmtlich niederhauen, nicht, wie die Reiseberichte erzählen, um der Besatzung „Licht und Luft“ zu verschaffen, sondern um auf die Stadt nöthigenfalls mit Kanonen zu feuern und einen plötzlichen Angriff und Ueberfall des Castells besser verhindern zu können. Dem Castell gegenüber, an der andern Seite der Piazza d’Armi, erhob sich der schöne Triumphbogen, der Arco della Pace, ein hohes Marmorthor mit drei Durchgängen, welches der Kaiser Napoleon im Jahre 1804 als Schluß der Simplonstraße baute. Auf der Plattform stand die Friedensgöttin, auf einem Wagen gezogen von sechs Pferden. Die Friedensgöttin ist ein Napoleonischer Hohn. Als wenn Frankreich Italien jemals Frieden gebracht hätte, oder jemals Frieden bringen wollte! Die Friedensgöttin des Onkels ist eine ebenso große Lächerlichkeit, wie die Freiheitsgöttin des Neffen, welche derselbe an ihre Stelle setzen zu wollen heuchelt! Ein Volk, welches von der Unterstützung des französischen Kaiserthums die Freiheit erwartet, ist nicht werth, daß es die Segnungen der Freiheit jemals genießt. Mit Recht sagt eine der angesehensten preußischen Zeitungen: „Nach solchen Spielen mit Versprechungen, Verfassung, Recht, Gesetz, nach solchen Sympathien für Sclavenhalterei, Pfaffenregiment und Präfectenthum ist die sogenannte Fahne freier Nationalitäten eine unmögliche Posse geworden, die sogar für den Leichtsinn der Franzosen zu fratzenhaft ist.“

Lange stand ich oben und blickte mit Staunen und Bewunderung auf das großartige Bild, eben so eigenthümlich und eben so schön, wie das Bild, welches sich unter mir aufrollte, als ich in Venedig auf dem Campanile di San Marco stand. Wie würde Kaiser Friedrich Barbarossa, der stolze Hohenstaufe, erstaunt gewesen sein, wenn der Genius der Zukunft damals, als er vor fast siebenhundert Jahren Mailand von Grund aus zerstören und Salz auf die Mauertrümmer streuen ließ, vor seinem geistigen Auge dies reiche, lebensvolle und glänzende Bild entrollt hätte!

Langsam stieg ich hinab, zuerst auf der Schneckenstiege der durchsichtigen Pyramide der Guglia, auf deren Spitze die eherne kolossale Statue der heiligen Jungfrau steht, der Maria nascenti, der die Kirche geweiht ist, dann durch den Statuenwald und durch die Reihen zahlloser Thürme, Pfeiler, Bogen und Arabesken hinab in das Innere der Kirche. Durch die große Eingangspforte verließ ich dieselbe und ging über den Domplatz in das Café Mazza. Das Café Mazza liegt gerade an der Ecke, wo sich der prächtige Corso Francesco auf den Domplatz mündet. Man überblickt, unter den Säulen des Porticus sitzend, welcher sich vor dem Café an der rechten Seite des Domplatzes hinzieht, den ganzen Platz und den Corso Francesco. Seit dem Jahre 1848 nennt man in Mailand des Café Mazza das Officier-Kaffeehaus. Jede Stadt in der Lombardei hat ein solches Officier-Kaffeehaus; es ist das Café, was von den Officieren, aber auch nur von den Officieren der Garnison besucht wird. Kein Italiener besucht das Officier-Kaffeehaus. Vor dem Jahre 1848 war dies anders. Von einer solchen gesellschaftlichen Trennung, wie, seitdem die Lombardei nach dem Aufstande von der österreichischen Armee wieder erobert wurde, zwischen den Officieren und den Bewohnern der Städte eingetreten ist, war keine Rede. Seit dieser Zeit bilden die Officiere der österreichischen Armee in der Lombardei eine Gesellschaft für sich, mit der alle Beziehungen Seitens der Lombarden abgebrochen sind. Man weicht ihnen aus und vermeidet mit der größten Consequenz jede gesellschaftliche Berührung. Kein Name, kein Rang, kein Stand, keine Empfehlung öffnet ihnen die Häuser der italienischen Aristokratie oder der lombardischen Bürger. Ich habe in Verona und Venedig Officiere aus den ersten österreichischen Familien kennen gelernt, welche seit sechs Jahren mit ihrem Regiment in der Lombardei standen, und niemals ein Haus besucht hatten. Sie waren während dieser langen Zeit nie in Gesellschaft gewesen, sie hatten nie getanzt, sie hatten nicht einmal mit einer Dame von Stande gesprochen.

Der junge Baron v. K., aus einer der ersten böhmischen Familien, Rittmeister in einem Uhlanenregiment, ein hübscher, liebenswürdiger und sehr gebildeter junger Mann, war aus Prag mit seinem Regiment nach Verona dislocirt. Seine Mutter war aus einer der angesehensten lombardischen Adelsfamilien. Er kannte die unangenehmen gesellschaftlichen Verhältnisse in der Lombardei, er tanzte gern, sprach gern mit schönen Frauen und ging gern in Gesellschaft; er hatte sich deshalb von seiner Mutter und von andern in Prag wohnenden Adelsfamilien viele und gute Empfehlungen nach Verona mitgebracht, und gab sich alle Mühe, gesellschaftliche Beziehungen anzuknüpfen. Es gelang ihm in keinem einzigen Falle. Vermittelst seiner Empfehlungsbriefe ließ er sich vorstellen; man nahm ihn an, aber man empfing ihn so kalt, so förmlich, so gleichgültig, daß er in keinem Hause zum zweiten Male erscheinen konnte. Man lud ihn auch nirgends an, seinen Besuch zu wiederholen; selbst die Verwandten seiner Mutter thaten es nicht. In keine einzige Gesellschaft während der ganzen Saison wurde er geladen. Wer ihm von den Herren und Damen, an welche er empfohlen war, auf der Straße, auf der Promenade, im Theater begegnete, grüßte ihn oder erwiderte seinen Gruß mit Höflichkeit, aber so kalt, so förmlich, daß auf den Gruß keine Anrede folgen konnte. Nach monatelangen, vergeblichen Bemühungen gab er seine Versuche, Gesellschaften zu besuchen, auf und ging in das Officier-Kaffeehaus an der Piazza di Brera. Ich stellte den Baron zwei englischen Damen vor, deren Bekanntschaft ich unterwegs gemacht hatte.

„Sie hätten mir gar keine größere Freude erzeigen können,“ sagte er zu mir; „seit den vier Jahren, wo ich hier bin, habe ich mit keiner Dame von Stande mehr gesprochen. Ich sehe nur meine Verwandten und die Damen, an welche ich empfohlen war, in ihren glänzenden Equipagen vorüberfahren. Sie blicken mich an, als wenn sie mich nie gesehen hätten. Es ist unerträglich!“ –

Diese gesellschaftlichen Verhältnisse sind gewiß unerträglich, und um so unerträglicher für einen jungen Mann von Geist, Bildung und Geschmack, dem gesellschaftlicher Umgang auch außer den Kreisen seiner Cameraden Bedürfniß geworden ist. Aber dieser gesellschaftliche Umgang ist in den lombardischen Städten nicht zu bewerkstelligen. Der Baron von K. war nur einer von den vielen Hunderten, welche in dieser Beziehung eben so unglücklich waren, wie er, und unter dem Druck der schrecklichsten Langeweile seufzten. In den Kaffeehäusern, in den Conditoreien und in den Gasthöfen sind die Verhältnisse ganz dieselben, und während der letzten zehn Jahre ganz dieselben geblieben. Kein Italiener knüpft mit einem Officier eine Unterhaltung an, Niemand setzt sich zu ihm an den Tisch, Niemand spricht mit ihm. So sind die Officiere in jeder lombardischen Garnison dahin gekommen und auch folgerichtig dazu gedrängt worden, sich ein Kaffeehaus auszusuchen, welches sie allein besuchen, und dieses Kaffeehaus nennt man denn vorzugsweise das Officier-Kaffeehaus. Ich fand diese Officier-Kaffeehäuser nicht allein in den großen Städten, in Venedig, Mailand, Vicenza, Padua, Bergamo, Brescia, Mantua, ich fand sie auch in den kleinsten Ortschaften, z. B. in Laveno, in Varese, in Tirano. Kein italienischer Signor, kein Bürger besucht die Officier-Kaffeehäuser; man kann immer darauf rechnen, daß derjenige, den man im schwarzen Rock dort antrifft, ein Fremder ist.

So war es auch heute im Officier-Kaffeehaus in Mailand,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_070.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)