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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 4.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.       Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Er betet.

Erzählung von J. D. H. Temme, Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)


IV.
Er betet.

Acht Tage waren seit dem Balle bei der Präidentin verflossen. Antonie, die unglückliche Tochter des Raths Rohner, lag noch im Wahnsinn. In ihrem Körper wüthete zugleich ein Fieber. Der Arzt hatte das Fieber für ein günstiges Zeichen erklärt. Mit ihm werde die Nacht aufhören, die den Geist der Armen umdunkle. So hoffte er. Es konnte auch anders kommen.

Der Vater saß an dem Bette der Kranken. Hinter ihm stand der alte Schreiber Bernhard. Der Rath Rohner hatte einem Gespenste geglichen, als er in jener Nacht die wahnsinnige Tochter nach Hause brachte. Aber einem finsteren, drohenden Gespenste. Das Kind war das einzige Wesen auf der Welt gewesen, das er liebte. Sie war es noch, sie mußte es noch sein, sein Herz konnte sich nicht von ihr reißen, von ihr nicht. Und das Herz war ihm nicht gebrochen! Welche ungeheure Kraft mußte der Mann haben! Welche ungeheure Gewalt über sich! Er hatte die Tochter dem alten Bernhard übergeben, der noch auf war.

„Laß sie zu Bette bringen und den Arzt rufen!“

Aber der alte Mann hatte sich entsetzt.

„Um des Himmels willen, Rohner, was ist dem Kinde? Was ist Dir? Wie siehst Du aus? Was ist vorgefallen?“

„Was vorgefallen ist, alter Narr? Entweder ist sie eine Diebin und eine Wahnsinnige zugleich, oder sie ist blos eine Wahnsinnige. Laß den Arzt rufen.“

Damit war er in sein Zimmer gegangen.

„Möchte er beten können! Nur einmal! Nur für das arme Kind!“ jammerte der alte Mann.

„Was macht sie?“ fragte am andern Morgen der Rath den Schreiber. Er fragte es kalt, hart.

„Zu dem Wahnsinn ist ein hitziges Fieber gekommen.“

Der Rath hörte die Antwort eben so kalt und hart. Aber man sah es dem harten Gesichte doch an, daß er die ganze Nacht kein Auge geschlossen hatte, und als er, wie jeden Morgen, zum Gerichte gehen wollte, schienen die Füße ihn nicht tragen zu können. Er kehrte in sein Zimmer zurück und verschloß sich darin. Er genoß den ganzen Tag nichts. Zwei Tage lang ließ er sich nicht sehen. Er hatte auch nach der Kranken nicht gefragt. Am Abend des dritten Tages erschien er in dem Krankenzimmer. Sein Gesicht war furchtbar entstellt, sein Haar hatte in den paar Tagen sich grauer gefärbt; aber hart war er geblieben. Er stellte sich an das Bett der Kranken und betrachtete das in der Hitze des Fiebers glühende Gesicht, die von dem Wahnsinn zerstörten Züge. Er konnte das Alles sehen, ohne daß in sein Auge eine Thräne trat, ohne daß ein Zug seines Gesichtes sich veränderte.

„Ist sie immer so?“ fragte er den Schreiber, der weinend am Bette saß.

„Immer!“

Er starrte still vor sich hin. Dann fuhr er auf einmal auf.

„Der Bruder ein Betrüger! Sie – Ist es denn möglich? Großer –“

„Sprich das Wort aus,“ sprach der alte Schreiber zu ihm hin. „Mensch, sprich das Wort Gott aus. Du kannst sie retten! Du rettest sie.“ Aber der Rath sah ihn finster an.

„Abergläubischer Narr, kann ein Wort geschehene Dinge ungeschehen machen?“

„Aber sie ist keine Diebin! Diese nicht! Und wenn die ganze Welt es behauptet, und wenn ihr eigener Vater es beschwört, hartherzig oder selber wahnsinnig, es ist nicht wahr, ich verlasse das Kind nicht, das reinste, das unschuldigste Kind, das auf Erden lebt!“

Auf einmal hatte der Rath einen Entschluß gefaßt. Er verließ das Zimmer und das Haus. Er kehrte spät in der Nacht zurück. Er war bei der Präsidentin, bei der Generalin, bei dem Regierungsrath gewesen. Sie hatten ihm Alles mittheilen müssen, was sie wußten. Zu der Gräfin Göppingen war er nicht gegangen. Sie hatte er nicht fragen können.

Er kam kalt nach Hause zurück, und stellte sich wieder an das Bett der Kranken. Er betrachtete sie wieder. Er starrte vor sich hin.

„Ist sie schuldig?“ fragte, er sich. „Ist der Wahnsinn ihr Glück?“

Er verschloß sich wieder in sein Zimmer. Am folgenden Morgen früh ging er wieder aus, und zwar das erste Mal zum Gerichte nach dem Balle; es war den vierten Tag danach. Auf dem Gerichte ließ er sich die Acten gegen die Vatermörderin vorlegen. Er las sie aufmerksam durch. Dann ging er in das Criminalgefängniß, wo auch sein Sohn saß; aber zu ihm ließ er sich nicht führen. Der Director des Gefängnisses mußte ihn zu der Vatermörderin geleiten. Mit ihr unterhielt er sich lange. Er fand in ihr ein tief unglückliches, aber tief reumüthiges Geschöpf. Ein besseres Wesen war sie schon jetzt. Sie konnte der menschlichen Gesellschaft wieder nützlich werden, wenn das Gefühl ihres Unglückes ihr das gestattete. Und mußte man das nicht hoffen, wenn ihr die Gnade, wenn ihr wieder die Liebe der Menschen wurde? Der Director des Gefängnisses bestätigte ihm, was er selbst fand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_045.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2018)