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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Töchter benachrichtigte Wirth in’s Zimmer, lüftete sein Käppchen und begann sein Examinatorium. – „Wo studiren die Herren Studenten, wenn ich fragen darf?“ – „In Jena.“ – „Gewiß auch aus Baiern?“ – „Ja, aus Wunsiedel.“ – „So, so, da habe ich auch einen Verwandten, der in Jena studirt, den Sohn des –rathes W.“ – „Was? der W. bin ich ja; Sie sind der Herr X.?“ – „Freilich, freilich, und Sie Fritz W.?“

Ich stand dabei in stillen Aengsten, wie sich die Sache endigen würde, zumal ich endlich auch als ein weitläufiger Verwandter aus Sachsen vorgestellt wurde.

Der alte Herr rief die ganze Familie zusammen; Mutter und Töchter mußten dem neuen Vetter einen Kuß geben, und dieser Vetter spielte, mit den Verhältnissen in Wunsiedel ziemlich vertraut, seine Rolle so gewandt, daß ich manchmal selbst auf den Gedanken kam, ihn für den rechten Vetter zu halten. Nur einmal, als die eine Cousine nach dem „Tantchen“ frug, und der Vetter deren vollständiges Wohlsein versicherte, wäre er bald in eine unvermuthete Schlinge gefallen, denn das „Tantchen“ lag bereits seit sechzehn Wochen krank; doch half er sich schnell, und nannte eine andere Tante, die er im Sinne gehabt habe, während er die fortwährende Krankheit der andern treuherzig bestätigte.

Da gerade das Vogelschießen – das größte Fest des ganzen Jahres – in die Woche unseres Besuches fiel, so nützte uns kein Sträuben, wir mußten ausharren und wurden natürlich bei der ganzen großen Verwandtschaft des Städtchens herumgeführt und von derselben zum Theil zu weiteren Festlichkeiten geladen. Endlich nahte der Glanzpunkt aller Herrlichkeiten – der Ball am letzten Abend des Vogelschießens, und hier wäre bald der neue Vetter mit seiner bis jetzt so glücklich gespielten Rolle durchgefallen. Die früher als wir in den Ballsaal geeilten Cousinen trafen dort einen jungen Pfarradjuncten aus der Nachbarschaft, der früher in Jena studirt hatte und Mitglied der Burschenschaft gewesen war; in der Freude ihres Herzens verkündigten sie ihm sogleich, daß Vetter Fritz W. von Jena anwesend sei und bald erscheinen werde.

„Aber Fritz trägt einmal einen langen Bart!“ versicherte prahlend die eine Cousine.

Der Pfarradjunct machte große Augen, denn er hatte erst vor einem halben Jahre von dem wirklichen Fritz W. Abschied genommen, als an dessen Kinn der Streit zwischen Haaren und Flaum noch nicht recht entschieden war. Als wir hierauf in den Saal traten, stutzte er nicht wenig; doch bald erkannte er den Pseudofritz, mit dem er ja noch zusammen die Universität besucht hatte. Der falsche Vetter trat auch sofort an ihn heran, und mit den leise zugeflüsterten Worten: „Verrathe mich nicht“ war seine Zunge vorläufig gebunden. – Fast schäumte der jugendliche Uebermuth über die Grenzen hinaus, als der Pfarradjunct bei Tafel das Glas erhob, dem Postmeister zu seinem Vetter Glück wünschte, und die ganze zahlreiche Gesellschaft – zwei Drittheile bestanden aus „Vettern“ und „Muhmen“ – in lautem Jubelruf den seligen Vetter umringte, der gar nicht müde wurde, den Glückwünschenden seinen Dank in herzlichen Küssen zu erkennen zu geben.

Am nächsten Morgen eilten wir (der Postmeister ließ uns drei Meilen weit in einem eleganten Wagen fahren, und die Cousinen hatten für ein elegantes Frühstück Sorge getragen) aus dem fröhlichen Städtchen, und sendeten von der Grenzstation aus unserm freundlichen Wirthe einige dankende Zeilen, in denen wir ihm unseren Scherz gestanden und ihn freundlich baten, uns zu verzeihen, zugleich aber uns bald einmal mit den liebenswürdigen Cousinen in unserem wirklichen Wohnorte zu besuchen, um wenigstens die Zinsen abstoßen zu können, die seine Güte auf uns gehäuft hätte, da wir das Capital doch nicht zurückzuzahlen vermöchten. Der alte Herr hat, wie wir später hörten, ein etwas saures Gesicht bei Durchlesung des Briefes gemacht, und sich namentlich geärgert, wenn ihn Spottvögel gefragt, ob nicht bald wieder ein Vetter ankommen würde. Jetzt wird er wohl das Irdische gesegnet haben; sicher wird er ebensowenig, wie seine lieblichen Töchter, jetzt noch den beiden Wildfängen zürnen, die sich damals einen etwas starken, immer aber harmlosen Scherz mit ihnen erlaubt hatten.

E. Bdt.




Blätter und Blüthen.

Kinkel’s Wochenschrift. Die Deutschen in London und England überhaupt haben auf die verschiedenste Weise versucht, durch Englisirung Ersatz für das Vaterland zu finden. Aber es scheint überall mißlungen zu sein. Das englische Leben, so viele Vorzüge man ihm auch vor dem deutschen zuschreiben mag, bietet keinen Ersatz für das deutsche. Dieses hat sich denn auch nicht nur unter den Deutschen in England, sondern auch unter den Engländern zunehmend geltend gemacht.

Gegen das Englischthun der Deutschen ist seit Jahren eine immer stärkere Reaction eingetreten. Der Deutsche lernte sich, obgleich in dieser Beziehung selten unterstützt durch Ereignisse im Mutterlande, nach und nach als Deutscher fühlen und zeigen. Die Kinder einer Mutter, die sich früher flohen und mieden, fanden sich wieder zusammen. Es entstanden deutsche Vereine und Clubs aller Art, größere oder kleinere deutsche Colonien in den verschiedensten Stadttheilen Londons; deutsche Zeitungen, Journale und Bücher wurden von denen gesucht, die früher mit bitterem Hohn sich gerühmt, daß sie längst verlernt, noch etwas Deutsches zu lesen. Auch lernte man mit der Zeit einsehen, daß deutsche Arbeiter, Künstler, Gelehrte, Fabrikarbeiter, Gewerbtreibende, Kaufleute, alle Berufsarten und Stände, wenn auch oft durch landsmannschaftliche Taugenichtse irritirt und gedemüthigt, doch ganz wesentlich und in überwiegendster Majorität durch Persönlichkeit und Leistung die Engländer bei Weitem übertreffen. Eine Menge Leistungen und Arbeiten werden längst schon von den Engländern nur bei Deutschen gut gesucht und gefunden.

Kurz, die Deutschen in England fanden ihr Deutschland hier und cultiviren es seitdem mit zunehmendem Selbstgefühl.

Gottfried Kinkel hat sich das entschiedenste Hauptverdienst um Belebung und Veredelung des Selbstgefühls der hiesigen Deutschen erworben. Schon seine imposante, edele, auch in England hochgeehrte Persönlichkeit that Etwas. Aber erst seine Vorträge vor Arbeiter- und Kaufmanns-, Künstler- und Gelehrtenkreisen über deutsche Literatur, Geschichte und Kunst, worin er mit goldener, freier anmuthiger Rede die ewigen Schätze des deutschen Genius den hier Zerstreuten und oft sich ihres Vaterlandes Schämenden vor die Augen stellte und zu Herzen führte, vollendeten den Proceß aus deutscher Selbstentfremdung heraus in deutsches Selbstgefühl. Auch war Er es mehr wie jeder andere Patriot, Er, dem man Bitterkeit gegen das Vaterland am ersten verziehen haben würde, von dem es Viele erwarteten, der mit Liebe, mit Anerkennung, mit Hoffnung von den gegenwärtigen Zuständen sprach und – seiner ganzen Natur und Richtung nach – stets das Positive, Bedeutende, Erfreuliche in vergangenen und gegenwärtigen Zuständen und Thatsachen hervorzuheben und so seine Zuhörer zu trösten, zu erheben verstand. Wie oft wußte er bienenartig selbst entschiedenen Giftblumen ein Tröpfchen Honig abzugewinnen!

Um den Proceß des deutschen Sichwiederfindens in England und im Auslande überhaupt kräftiger unterstützen und weiter, anhaltender wirken zu können, entschloß er sich plötzlich, nachdem er sich aus den Ruinen einer mit der edeln Frau gemeinschaftlich errungenen Thätigkeit und Stellung kräftig emporgerungen (aber sein Haar ist dabei binnen wenig Wochen weiß geworden) zur Herausgabe des „Herrmann. Deutsches Wochenblatt aus London“. Es herrschte hier in London eine wahre freudige Begeisterung darüber, die ihm persönlich und durch Briefe eben so massenhaft zuströmte, wie vor einigen Wochen die erschüttertste Theilnahme.

Das Blatt will, wie der Prospect sagt, den Zweck verfolgen: „unter den im Auslande lebenden Deutschen den Antheil an der Nationalität und Freiheit des Vaterlandes zu wahren, und den Deutschen daheim einen Sprechsaal zu eröffnen in einem stammverwandten Lande, wo die Presse nur durch das von Geschworenen vertretene Gesetz beschränkt ist.“ – „Außer der Politik soll besonders das Ziel in’s Auge gefaßt werden, von deutschen Erfolgen in Leben, Kunst und Wissenschaft Bericht zu geben, zumal wenn sie von Landsleuten im Auslande errungen sind. Jede Nummer bringt einen Kunstbericht aus London, welcher im Laufe des Jahres für den Reisenden und Einheimischen in eine vollständige Anweisung zum Sehen der hier aufgehäuften Schätze sich abrunden soll. Ein Feuilleton von Originalarbeiten vertritt den Fortschritt der Literatur.“

Die erste Nummer ist erschienen. Der Leitartikel weist nach, daß von den verspotteten und verfolgten „Errungenschaften“ in Deutschland eine gute, nicht zu verachtende Zahl geblieben ist und Wurzel geschlagen habt, aus denen Blüthen und Früchte zu erwarten sind. „Deutschland“ wird mit einer freudigen Perspective rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft in seinen gegenwärtigen Verhältnissen und mit seinen zufälligen Tages-Ereignissen anerkennend revidirt. Wir machen hier nur noch auf das Feuilleton aufmerksam: Erlebnisse der Frau Johanna Kinkel aus ihrem kurz vor ihrem Tode vollendeten größeren Romane entnommen. Sie werden das Feuilleton mehrere Wochen füllen und Allen, die an ihrem Leben, Leiden und Tode so innigen Antheil nahmen, um so willkommner sein, als sie ihr bis jetzt wenig bekanntes Londoner Leben und Streben, komische und tragische Schicksale beleuchten.

In London herrscht große Freude über das neue Unternehmen Kinkels. Es ist uns, als hätten wir nun erst das rechte Band vaterländischer Gemeinsamkeit auf diesem fremden, schweren Boden gewonnen. Große Freude auch deshalb, weil jetzt, nachdem verschiedene Versuche einer deutschen Presse hier von unfähigen, sogar schmutzigen Händen gemacht wurden, zum ersten Male diese literarische Vertretung Deutschlands in London und England von den Händen eines würdigen Mannes, Gelehrten, Dichters und Schriftstellers in Angriff genommen ward.[1]


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
  1. Die Verlagshandlung der Gartenlaube wird später mittheilen, durch welche Gelegenheit und zu welchem Preise der „Herrmann“ zu beziehen ist.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_044.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2023)