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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

der bis jetzt theilnahmlos neben dem Ofen auf der Bank gelegen hat, und wie die Töne lauter erschallen, steht er auf, sein Auge beginnt zu leuchten, sein Körper bewegt sich nach den Klängen der Musik. Er tritt vor an die Zigeuner und gibt an, welche Melodie sie aufspielen sollen, indem er den ersten Vers des Liedes singt – die ungarischen Tanzmelodieen sind eben auch die der Volkslieder. – Und wie die schmelzenden Töne des Adagio nach und nach in ein schnelleres Tempo übergehen, so werden auch seine Bewegungen rascher. Er umfaßt die hübsche Wirthstochter. Sein Tanz wird zur glühenden Leidenschaft. Da – mitten im Tanze bricht plötzlich heftig die Musik ab – das Paar bleibt unbeweglich, als würde die entfesselte Leidenschaft von einer höhern Macht beherrscht.

Jetzt beginnt die Musik wieder, klagend, traurig – die Tänzerin entschlüpft dem Burschen, als fürchte sie, ihre Gefühle zu verrathen; sie tanzen getrennt; durch manche Wendung entgeht sie dem Arm, der sie wieder umfassen will. Der Tänzer erzählt gleichsam seinen Schmerz, seine Liebe. Seine Bewegungen folgen den melancholischen Tönen – er nähert sich allmählich dem zögernden Mädchen, und – in dem Augenblicke des Uebergangs vom Adagio in das brausende Allegro hat sie sein Arm umfaßt und dreht sie in sinnverwirrendem schnellem Wirbel, und durch die Macht der Leidenschaft besiegt, schmiegt sich das glühende Mädchen in seinen Arm.

Die ungarische Nationalmusik ist etwas so Eigenthümliches, wie unser Nationaltanz, den man eigentlich eine mimische Darstellung nennen kann. Da, wie schon gesagt, die Musik, nach der wir tanzen, die Melodie bestimmter Lieder ist, so ist der Tanz eine Darstellung bestimmter Worte; es ist ein Gespräch, welches der Tänzer mit seiner Tänzerin führt; eine geheimnißvolle Unterredung, ein Geständniß seiner Gefühle, eine Enthüllung seines durch Leidenschaft bewegten Gemüths. Und deshalb gibt es für diesen Tanz keine Regeln, nach denen er gelehrt werden könnte. Nie wird ihn ein Anderer, als ein geborner Ungar, so tanzen, wie er getanzt werden soll, um nicht zu einem wirren, bedeutungslosen Durcheinander zu werden.

Der Bewohner der Pußta ist noch freigeblieben von jener Convenienz, die das offene ehrliche Gesicht mit trügerischer Schminke überzieht; aber es fehlt ihm nicht an Anmuth und sittlichem Anstand; wie denn überhaupt der Ungar frei ist von jener rohen Gemeinheit und Plumpheit, von jener stumpfen Stupidität, die wir bei den untern Volksclassen mancher andern Nationen, die uns so gern „rohe Barbaren“ nennen, so häufig antreffen. Er hat von der Natur reinen, hellen Verstand erhalten. In seinem Charakter liegt eine gewisse Ritterlichkeit, die sich am deutlichsten in der rücksichtsvollen Behandlung des weiblichen Geschlechts kund gibt. Ein stolzes Selbstgefühl, ein Bewußtsein von Kraft liegt in seiner Brust, sowie angeborne Liebe zur Musik und Poesie. Es ist ein trauriges Zeichen der Civilisation, daß wir die Grundzüge des ungarischen Nationalcharakters weit deutlicher bei dem wilden Bewohner der Pußta, als in den höhern Ständen, finden. Es hat sich seit einem Jahrzehnt so Vieles geändert im theuren Vaterlande, daß der Ungar sich am Ende fremd fühlen wird in der Heimath!

Ebenso wie unsern Tanz wird ein Fremder auch unsere Musik nie verstehen, wenn auch ihre Töne seinem Ohre angenehm klingen und selbst auf sein Gemüth tiefen Eindruck machen. Diese wunderbaren, durch Gefühl und Leidenschaft hervorgerufenen Melodieen, die an kein Gesetz, an keine Regel gebunden sind, deren Ursprung Niemand kennt – sie ergreifen die Seele des Ungars mit gewaltiger Zaubermacht. Er versteht die Töne. Er fühlt in ihrer Harmonie das Wehen einer schönen Vergangenheit; hört durch ihre Klänge die Geister seiner Väter, die mit ihrem Blute den Boden getränkt, mit ihrem Leben die theure Heimath erkauft, zu seinem Herzen sprechen. Sie lehren ihm dies schöne Land mit aller Kraft seiner Seele lieben, und – deshalb ist das Gefühl der Vaterlandsliebe so tief, so mächtig in der Brust des Ungars. Nie wird er sein Heimathsland in der Fremde vergessen, wenn auch das Glück sein reichstes Füllhorn über ihn schüttet – er steht überall allein – ihm ist keine der andern Nationen verwandt, keine versteht ihn mit seinen Träumen von der Zukunft, versteht ihn mit seinen theuren sorgfältig gehegten Erinnerungen an eine große, glänzende Vergangenheit, bei denen seine Seele so gern verweilt, daß er darüber der Gegenwart vergißt.

Dieses schöne Land ist aber auch ganz geschaffen, es so zu lieben, wie es eben der Ungar liebt. Es ist reich ausgestattet mit Allem, was der Mensch zu seinem Wohlsein bedarf; man kann es füglich Europa im Kleinen nennen, so mannichfach sind seine Producte, sein Klima, seine Bewohner mit ihren Sprachen und Sitten.

Während der glühende Sonnenstrahl in einem Theile dieses wunderbaren Landes die köstlichsten Trauben, Melonen, Pfirsiche, Feigen, Anis, und Baumwolle reift, gedeihen in dem bergigen kalten Norden kaum Kartoffeln, Rüben, Schlehen und einige Obstgattungen. Es gibt z. B. im Sohler Comitate einige hoch im Gebirge liegende Ortschaften, wo Kirschen und Erdbeeren erst im September reifen, während man diese Früchte im Banate schon Mitte Mai gegessen.

Während der Ungar in seinem hübschen reinlichen Hause im Winter behaglich am wohlbesetzten Tische seine Pfeife raucht und seinen guten Wein schlürft, täglich Fleisch und gutes Weizenbrod ißt, kauert der Slovak der Comitate Liptau, Arva, des nördlichen Theiles von Trentschin in seiner elenden Hütte und ist glücklich, wenn er Kartoffeln ohne Fett, oft auch ohne Salz, und ein Stück Haferbrod zu essen hat und Sonntags einen Schluck schlechten Branntwein dazu trinken kann. Er denkt mit Neid an die fetten fruchtbaren Ebenen, wo er den Sommer über als Schnitter gearbeitet, an die ungeheueren Massen des herrlichen Weizens, der in dem ungedüngten Boden wächst – während sein magerer Bergboden kaum ein wenig Hafer hervorbringt. Aber diese Gebirge bergen reiche Schätze edler Metalle und Erze in ihrem Innern.

Auf den weiten Pußten Niederungarns weiden edle Rosse, schöne Rinder und feinwollige Schafe. Der Statistiker Fényes gibt die Anzahl der Schafe, die in Ungarn gezüchtet werden, auf 17 Millionen, des Rindviehes auf 4,800,000 an. Im Norden gibt es treffliche Alpenweiden, die für Schafe benutzt werden, aus deren Milch ein köstlicher Käse bereitet wird. In den Wäldern haust unzähliges Wildpret; auf den Felsenspitzen der Karpathen sehen wir sogar die Gemse herumklettern. Die großen Moräste sind von Tausenden von Wasservögeln, die Seen und Flüsse von wohlschmeckenden Fischen belebt. Aus den geheimnißvollen Tiefen der Gebirge quellen zahlreiche Mineralwasser; unter der fruchtbaren Erdoberfläche liegen unermeßliche Steinkohlenschichten; die Gebirge von Marmarosch liefern das beste Salz – Alles, Alles finden wir innerhalb der Grenzen unseres Vaterlandes, welches mit Recht Oesterreichs Kornkammer genannt wird. Man nimmt nach der schon erwähnten Statistik von Fényes den Ertrag des Ackerlandes auf achtzig bis neunzig Millionen österreichische Metzen Getreide an. Auf den Tanya’s werden ungeheuere Schaaren Gänse gezogen; im Jahre 1845 wurden allein 8634 Centner Bettfedern ausgeführt.

Nächst dem Ackerbau wird der Weinbau am meisten in Ungarn gepflegt, doch steht die Cultur des letzteren noch lange nicht auf jener Stufe, die sie erreichen muß, wenn unsere Weine den ihnen gebührenden Rang einnehmen sollen. Der Weinbau dürfte eine unermeßliche Quelle von Gewinn für Ungarn werden, wenn man mehr Fleiß und Aufmerksamkeit darauf verwenden wollte. Vielleicht werden die Weinbergsbesitzer durch die hohen Steuern zu der heilsamen Erkenntniß gebracht, daß in den Adern ihrer Reben Gold fließt, wenn man es zu Tage zu fördern versteht.

Seit einigen Jahren kommt die Seidenzucht bedeutend in Aufnahme, der Tabaksbau jedoch ist seit der Einführung des Monopols bedeutend gesunken.

Und so nehmen wir denn Abschied von der Pußta und ihren einsamen Bewohnern. Erscheint sie auch dem Fremden ohne Interesse und einförmig, für den Ungar hat sie ihre Poesie – er liebt sie, wie der Araber seine Wüste, der Schweizer seine Alpen, der Indianer seinen Urwald, der Seemann sein Meer.

Mag uns das Schicksal noch so weit vom Vaterlande entfernen – die vielen wunderbaren Stimmen, die in dem Wehen der heimathlichen Lüfte zu uns sprechen, klingen stets in unserer Seele, und ewig wahr bleiben die Worte unseres unsterblichen Dichters: „Außerhalb der Grenzen des Vaterlandes gibt es kein Glück, kein Leben für den Ungar!“

Irma von Beniczky.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_042.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2023)