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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Ein Besuch bei Kane, dem Nordpolfahrer.
Von J. W. v. M.

Mein Aufenthalt in Philadelphia, der Durchforschung der in ihrer Art einzigen zoologischen Sammlung und dem Besuche der Akademie gewidmet, nahte seinem Ende. – Entzückt von der Reichhaltigkeit dieser Schätze, zu welchen mir die Akademie mit zuvorkommender Güte den ungehindertsten Zutritt gestattet hatte, wollte ich die letzten Augenblicke zu einem Ausfluge in die Umgebung der Stadt benutzen, der ich so viel des Schönen und Belehrenden verdankte. Noch war ich ungewiß, nach welcher Richtung hin ich mich wenden sollte, als die Ankunft eines Briefes rasch meine Zweifel abschnitt. – Kane, der unerschrockene Nordpolfahrer, der die amerikanische Expedition zur Aufsuchung des Sir John Franklin im Polarmeere commandirt hatte, an dessen Namen sich die herrlichste Idee heldenherziger Mannheit knüpft, lud mich ein, ihn auf seinem Landsitze Furlrock zu besuchen.

Im Nu war ich an einem der Einsteigeplätze der Eisenbahn, welche die Stadt nach allen Richtungen durchzieht und sie mit der Umgegend verbindet; – nach wenigen Augenblicken hatte ich meinen Platz und fort ging’s durch die langen Straßen, als wenn keine Seele in ihnen athmete, während doch Tausende von Menschen zu beiden Seiten sich drängten und rastlos durcheinander trieben.

Ich hatte mich in einen Gepäckwagen geflüchtet und ungestört dem Genusse einer guten Cigarre hingegeben, als plötzlich der mehrmalige schrille Pfiff der Locomotive meine Meditation unterbrach. Schnell bog ich mich aus meinem Wagen, welcher der vorderste war, und sah mit Entsetzen die Veranlassung des gegebenen Signales. – Vor uns auf den Schienen lag ein Neger und schlief, trotz dem Mark und Bein durchdringenden Pfiff, der einen Todten hätte erwecken können. Die Unmöglichkeit, den im vollen Laufe dahinschießenden Zug aufzuhalten, lag klar am Tage, noch zwei Secunden – und der Afrikaner wurde von der Sicherheitsvorrichtung, die sich vorn an der Locomotive befindet, aufgehoben und dreißig Schritte weit weggeschleudert. – Als man den Zug zum Stillstand gebracht und den armen Neger herbeigetragen hatte, konnte ich mich schaudernd überzeugen, daß ihm kein Knochen im Leibe ganz geblieben war. „’s ist nur ein Neger,“ lautete der fast einstimmige Ausspruch der anwesenden Amerikaner, und ich begann, den Armen glücklich zu preisen, der schlafend dem Tode anheimgefallen war, in dessen dunklem Reich der schreiende Contrast der Farben der Oberwelt sich auflöst.

Nach einer halben Stunde hielt der Zug am Saume eines Waldes; ein breiter Weg schlängelte sich anmuthig durch das Gehölz: er führte mich an ein reizend gelegenes Landhaus, die Wohnung der Familie Kane. Die wundervolle Lage dieses Landsitzes ist mir das Ideal eines Ruheplatzes für einen Reisenden, der im Schooße seiner Familie Erholung sucht von unzähligen Anstrengungen und Gefahren und die freie Muße, seine Erlebnisse niederzuschreiben.

Mit der Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit, die man bei den vollendet gebildeten Männern aller Nationen findet, empfing mich der jugendliche, berühmte und bescheidene Reisende. Ein kurzes Gespräch reichte hin zum innigen Verständniß unserer Gefühle und Ideen, ein warmer Händedruck besiegelte den neuen Freundschaftsbund zwischen dem kühnen Nordpolfahrer und mir, den der unwiderstehliche Wandertrieb aus Afrika’s gluthversengten Wüsten hierhergeführt hatte: wir wurden Brüder. – Nach dem Mahle, das wir im Kreise der liebenswürdigen Familie genossen, ergingen wir uns im erfrischenden Schatten der ehrwürdigen hundertjährigen Bäume, welche die Villa umgeben, und deren schweigendes Halbdunkel den schlummernden Gedanken aus tiefstem Herzensgrunde auf die Lippen lockt, von wo er wie ein kastalischer Quell die silberklare Fluth der reichsten, vollsten Gefühle einer Menschenbrust in wechselnder Unterhaltung ergießt. – Wie viele trauervolle Erinnerungen und schreckliche Ereignisse knüpfen sich an diesen Theil der Erde, von der Zeit an, wo der rothe Indianer, der ursprüngliche Bewohner dieser herrlichen Gegenden, von dem Bleichgesichte aus der Ruhe aufgeschreckt, den ungleichen Kampf gegen den Eindringling begann, dessen Ueberlegenheit ihn aus seinen väterlichen Wohnsitzen in die Wüsten des Westens oder in die eisigen Steppen des Nordens trieb, wo er jetzt gehetzt, wie das Wild der Wälder, klagend irrt, indessen der Usurpator sein Haus auf die Stelle der verlassenen Wigwams baut! –

Indem wir so vereinigt des Umschwungs der Zeiten gedachten, waren wir über eine kunstlose Brücke gekommen, welche die hohen grünen Ufer eines klaren, durchsichtigen Baches vereinte, und hatten die Höhe erklommen, von welcher diese Quelle in schäumenden Cascaden herniederfällt und mit feinem Sprühregen die grüne Blättermasse der ehrwürdigen Ueberreste des einstigen Urwaldes befeuchtet. Auf der entgegengesetzten Seite begrenzt ein ungeheuerer Granitblock die Aussicht.

„Eines Morgens,“ erzählte Kane, „kamen unsere Arbeiter entsetzt und mit dem Geschrei zu mir, daß die Besitzung von einer Indianerhorde überfallen sei, welche sich in der Nähe des großen Granitfelsens gelagert habe und alle Anstalten treffe, daselbst ihren dauernden Wohnsitz aufzuschlagen.“

Woher kamen diese Indianer? Was hatte sie vielleicht aus dem fernen Canada herbeigeführt in die Mitte der Civilisation? Niemand konnte diese Fragen beantworten.

Der mächtige Stamm der Lenni-Lenape’s, ein Theil der Völkerschaft der Delawaren, hatte seit unfürdenklichen Zeiten in den Wäldern von Lockavana gejagt und im Schuylkill-Flusse gefischt, als die Weißen erschienen und sie Schritt für Schritt aus dem Gebiete drängten, in welchem sie geboren waren und wo sie zu sterben gedachten. – Die Lenni-Lenape’s theilten das Schicksal der übrigen Nationen; sie wurden gezwungen, aus dem Lande ihrer Ahnen zu weichen und den Siegern ihre Fluren, ihre Wälder, alle die Stätten, an welche sich ihre freudigen und traurigen Erinnerungen knüpften, und mit ihnen den gewaltigen Felsen von Furlrock zu überlassen, der die Gebeine ihrer Väter deckte und das Grab ihres gefeiertsten Häuptlings. Nach einem Jahrhundert war ihr zahlreicher Stamm durch Hunger und Elend, durch die Trübsal der Verbannung und die verheerende Wirkung des Feuerwassers, das ihnen der weiße Mann aufgedrungen hatte, auf funfzig Köpfe geschmolzen, und jedes Jahr streute der Tod die zahlreichen abgewelkten Blüthen in die kalte canadische Erde.

Da faßten die Unglücklichen einen großen erhabenen Entschluß; er war das ernste Resultat einer ernsten Berathung.

Von Canada zogen sie in langem, mühevollem Marsche an die Ufer des Delaware, zum Denkmal einer glorreichen Vergangenheit, um die geheiligten Reste ihrer Väter aus der entweihten Erde zu nehmen oder da zu sterben, wo jene starben. – Das hatte die Letzten der Lenni-Lenape’s zum Granitfelsen von Furlrock gebracht.

Was wäre wohl einfacher und poetischer gewesen, als daß man diese unschädlichen Kinder der Natur auf ihrem Erbtheile friedlich leben ließ, dessen man sie beraubt hatte! Dies war auch die Meinung und der Vorschlag meines Freundes Kane. Aber die guten Indianer waren unglücklicher Weise genöthigt, zu essen, um zu leben, und hatten bereits auf zwei Meilen in der Runde alle Tulpen- und Narcissenzwiebeln ausgerissen und sie in Ermangelung einer anderen Nahrung roh verzehrt.

Da schien es den benachbarten Pflanzern doch etwas langweilig, einen ganzen Stamm den Hungertod sterben zu lassen; sie beschlossen, die armen Teufel fortzujagen. Man versammelte die Flurwächter der ganzen Gegend, umzingelte die Indianer, trieb sie auf einen Haufen zusammen, und brachte sie nach Philadelphia. Dort wurden sie, nackt, wie sie waren, von Allem entblößt, in einen Separattrain gepackt und nach Canada zurückgeschafft. Kane versicherte mich, daß er nie einen seltsameren und zugleich erschütternderen Anblick gehabt habe, als diese Verpackung und Weiterbeförderung der armen Rothhäute, welche mit düsterer Resignation diesen rohen Eingriff der Civilisation in ihre heiligsten Naturrechte erduldeten.

Am Abend verließ ich Furlrock. – Beim Abschiede gab mir Kane mit einem geheimnißvollen Lächeln zu verstehen, daß die Bürger Philadelphia’s vor meiner Abreise nach Mexico, wahrscheinlich schon am nächsten Tage, mich mit einem Auftrage betrauen würden, der mir vielleicht nicht unangenehm sein könnte.

Wirklich fand ich bei meiner Zurückkunft in mein Hotel eine Einladung zum Abendessen für den folgenden Tag, unterzeichnet von vierundzwanzig Bürgern der Stadt. Da die Veranlassung hierzu innig mit einer der schönsten Episoden aus Kane’s thatenreichem Leben zusammenhing, so möge die Erzählung derselben den Verehrern des trefflichen, leider so früh dahingeschiedenen Mannes als ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_023.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)