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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Wanderungen im südlichen Rußland.
Von Dr. Wilhelm Hamm.
1. Mitten in den Heuschrecken.
(Schluß.)


Der unermeßliche Schaden, welchen die Heuschrecken dem Ackerland und dem ganzen Pflanzenwachsthum zufügen, gewinnt an Umfang und Bedeutung, wenn man in Betracht zieht, daß die Wanderschwärme noch lange nicht so viel Unheil anzurichten im Stande sind, wie die junge Brut. Diese ist am gefürchtetsten; jene fallen blos Nachmittags, vom raschen Flug ermüdet, in bestimmtem Umkreis nieder, und wenn auch in diesem meist nicht das kleinste grüne Blatt oder Hälmchen ihren gewaltigen Freßwerkzeugen entgeht, so erheben sie sich doch am nächsten Morgen wieder, und die Strecke bis zum neuen Rastort bleibt verschont, d. h. wenn nicht, wie häufig, andere Schwärme nachfolgen. Die Wanderzeit der Heuschrecken dauert in Neurußland von Ende Juli bis in den September; als gewöhnlichen Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Züge nennt man den 20. Juli. Wahrscheinlich dienen ihre Wanderungen vorzugsweise zur Aufsuchung geeigneter Brutplätze, solcher Orte, wo, wie der Instinct ihnen sagt, die Eier Schutz vor dem Winterfrost, dann Sonnenwärme zur Entwicklung und die Larven endlich hinreichende Nahrung finden. Sie gleichen in dieser Hinsicht den Fischen. Als das wahre Vaterland der Heuschrecken gilt im ganzen südlichen Rußland Bessarabien, denn dort sind ihre ausgedehntesten Brutregionen; nichtsdestoweniger kommen alle Züge dahin von Osten; jene Provinz und die Krim sind daher nur als Zwischenstationen oder Colonien zu betrachten.

Weibliche Heuschrecke [Acridium tartaricum].
      Männliche Heuschrecke.   Junge Heuschrecke nach der zweiten Häutung.

Die Zeit des Eierlegens fällt in das Ende des August und in den Anfang des September; mittelst seines Legestachels versenkt das Weibchen, welches einen viel größeren Körper hat, wie das Männchen, die Eier einen bis anderthalb Zoll tief in die Bodenkrume. Dieselben haben die Gestalt von langen Gerstenkörnern, oben abgerundet, unten etwas spitz gezogen, ihre Farbe ist weißlich oder graugelb, sie hängen in kleinen Klumpen zusammen, zerdrückt man sie, so fließt ein gelblicher Milchsaft aus. Gegen die Kälte sind sie ziemlich unempfindlich. Der Intendant Strapanski in Baratofka hatte im vergangenen Winter ein großes Einmacheglas, mit Eiern und Erde angefüllt, fortwährend im Freien stehen lassen, und der Frost war mehrmals auf –21° R. gewachsen; nichtsdestoweniger krochen im Frühjahr sämmtliche Eier aus, bis auf diejenigen, welche dicht am Umfange des Gefäßes kleben geblieben waren. Sobald das Auskriechen der Eier beginnt, wimmelt in wenigen Tagen das Feld, die ganze Steppe von den ungeflügelten Larven, deren Masse jeden Begriff übersteigt. Will der Landmann etwas thun zur theilweisen Rettung seiner Saaten, so ist dann der rechte Zeitpunkt da. Im Jahr 1854 waren ungeheure Züge aus Osten gekommen, im darauf folgenden Frühjahre zeigten sich die ersten Larven über der Erde Anfangs Mai, am 12. Mai war schon das ganze Land der deutschen Colonien meilenweit von zahllosen Schichten der Larven überzogen, und wenig wurde gerettet. Im Jahr 1856 erschien die erste Brut am 7. Mai, am 21. war das Auskriechen beendet. Die Dauer des letzteren und die Entwickelung der Larven hängt von der Witterung ab; je wärmer diese, um so früher und rascher erfolgt sie. Treten, wie häufig, während derselben kühle Nächte ein, so verzögert sie sich auffallend und dies begünstigt die Möglichkeit ihrer theilweisen Vernichtung, indem dadurch Zeit zu allen nothwendigen Vorkehrungen gewonnen wird. Die Larven haben, sobald sie dem Ei entschlüpft sind, schon ganz die Gestalt der ausgewachsenen Heuschrecke, nur fehlen ihnen die Flügel. Diese erhalten sie erst nach der zweiten Häutung, welche gewöhnlich in der letzten Hälfte des Juni erfolgt; eine unserer Abbildungen zeigt das junge Thier in diesen Stadium. Die Flügel aber entfalten sich darnach vollständig erst in vierzehn Tagen, dann erhebt sich auf einmal die ganze Genossenschaft wie auf ein gegebenes Signal, und als schaarten sich die Heuschrecken um einen Führer oder eine Standarte, entfliegen sie in dichtgeschlossenem Zuge nach Westen, in die Donaufürstenthümer, nach Ungarn und weiter.

Der Heuschreckenfänger.

Der russische Bauer betrachtet ihre Plage als eine Strafe des zürnenden Gottes, und thut nichts, um sie von seinen Feldern zu vertilgen, höchstens daß er sie von dem eigenen Acker zu verjagen sich müht, auf den des Nachbars. Anders aber der Deutsche. In Neurußland leben gegen 170,000 deutsche Colonisten, freie Bauern, die auf eigener Scholle sitzen, deutsche Sprache, deutsche Sitte treulich bewahren, und deutsche Cultur getragen haben in die unwirthbare Steppe; vielleicht daß wie ein andermal den werthen Lesern von diesem interessanten Völkchen aus eigener Anschauung erzählen. Diese legen nicht die Hände in den Schooß und warten auf Wunder, wenn der Feind über sie kommt, wie ein gewappneter Mann; ihre schwieligen, in rastloser Arbeit gestählten Fäuste sind gewohnt, den Schlag mit Gegenschlag zu erwidern; rüstig schreiten sie zur That nach weisem Rath, und darum haben sie auch schon seit einem halben Jahrhundert Unglaubliches

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_021.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)