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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

die Spitze der Deichsel gebunden, der Jämschtschik (Postillon) schwang sich auf den Bock neben Ilia, den mitgenommenen leibeigenen Diener, und trieb mit dem eigenthümlichen leisen Pfiff der russischen Rossebändiger die Pferde an. Weiter aber reichen meine Erinnerungen an diese Nacht nicht.

Aus festem Schlafe erwachten wir erst bei einem längeren Stillstande des Wagens. Es war früher Morgen, eben ging die Sonne auf, und wir befanden uns auf der breiten Straße vor dem Posthause des Städtchens Bereslav. Ausgestiegen, um die Glieder zu recken, erblickten wir vor uns in der Tiefe das breite Silberband des Dniepr, über welchen hier eine mächtige Holzbrücke geschlagen ist, die einzige bedeutende Passage aus dem Norden in das taurische Gouvernement, dessen Westgrenze der Strom bildet. Ueber diese Brücke sind die russischen Heere in die Krim gegangen; damals glich Bereslav einer Weltstadt; Tausende von Fuhrwerken, welche oft Tagelang warten mußten, ehe die Reihe an sie kam, die Brücke zu passiren, bildeten eine Wagenburg zwischen dem Orte und dem Flusse und Vieles wäre zu erzählen von den Drangsalen, welchen dort Menschen und Thiere preisgegeben waren und nur allzuhäufig erlagen. Auch jetzt war ein Lager auf dem freien Platze der Station gegenüber aufgeschlagen, aber es bestand blos aus sieben Zelten von Zigeunern. Aus allen qualmten Rauchwolken empor, tönte lustiges Hämmern. Wir besuchten die luftige Niederlassung; die Zelte waren offen, die Einwohner schon an der Arbeit. Sieben Feldschmieden waren hier etablirt und alle hatten Beschäftigung; nichts ist einfacher, wie die Einrichtung und das Handwerkszeug. Ein ganz kleiner Ambos war in die Erde gestoßen, ein Häufchen Holzkohlen ward durch einen vielgeflickten ärmlichen Blasebalg in Gluth erhalten, den ein nackter Knabe schläfrig bewegte, in Glut erhalten. Die Zigeuner sind als Schmiede, Kesselflicker, Klempner in Rußland viel berühmt, und dem geschicktesten Eisenarbeiter würde es schwer fallen, ihnen die Kundschaft der Bauern zu nehmen.

Eben verläßt ein alter Kleinrusse, kenntlich an der Tracht, eine dieser primitiven Werkstätten und prüft wohlgefällig die gelöthete Sense, mit welcher er in den dünn bevölkerten Provinzen Neurußlands einen höheren Lohn erwirbt, als daheim, und genug, um den langen Winter halb auf dem Ofen zu verdämmern. Ein paar kleine, bösartig aussehende Klepper weiden mit zusammengekoppelten Vorderfüßen in der Nähe; ein junger Mann, mit nichts bekleidet, als einer zerrissenen Weste ohne Aermel und weiten, vielfach durchlöcherten Beinkleidern, tritt herzu, entfesselt ein Thier, schwingt sich leicht hinauf und heidi! fliegt er über die Steppe mit dem Schluß und dem Anstande des besten Cavaliers. Es gibt keine tüchtigeren Reiter, aber auch keine gewiegteren Roßkämme, als die Zigeuner; nebenbei treiben sie allenthalben die Thierarzneikunst, denn die ist bekanntlich nach der Bauern Meinung von der Schmiedekunst unzertrennlich. Ein ekelhafter Schmuck der Zelte sind lange, rothe Streifen rohen Fleisches, welche guirlandenartig an den Stangen und über der First hängen, um in der Sonne zu trocknen als Wintervorrath. Vielleicht ist gestern eine Kuh gefallen im Städtchen oder ein Pferd auf der Landstraße – die Zigeuner nehmen es nicht so genau. Namentlich ist das auch der Fall mit dem Mein und Dein; ihnen kleine und große Uebergriffe in fremdes Eigenthum abzugewöhnen, ist so schwierig, wie sie an feste Wohnsitze zu bannen; die russische Regierung hat in dieser Hinsicht schon viele Experimente gemacht, ohne ihr Ziel bis jetzt erreichen zu können. Die Bewohner der Zelte erinnern nicht im Entferntesten an die idealischen Preciosen, von welchen man so viel gehört und gelesen hat: kleine unscheinbare Gestalten, mager bis zum Exceß, was man um so besser bemerken kann, da bei den Meisten die liebe Natur jeder bergenden Hülle entsagt hat; nur Eins erscheint bedeutend an ihnen, das ist das Auge mit seiner stechenden Flamme. Aber die Atmosphäre der Zigeunerlager ist nur auf Minuten erträglich, schon stürzen sich Myriaden Fliegen auf ihre Fleischverzierungen und wir entfliehen.

Hinaus in den thaufrischen Morgen der Steppe! Es war der 28. Juli und die Ernte, welche trotz der südlicheren Breite hier später fällt, als im mittleren Deutschland, im vollen Gange. Doch nur selten begrenzten bestellte Felder die Straße, so fern der Blick reichte, dehnte sich die weite braungrüne Steppe. Kein Baum, kein Haus zu sehen am ganzen Horizont; nur hier und da heben sich aus der Ebene kreisrunde, beraste Hügel, etwa 15 Fuß hoch, zuweilen ein doppelt hoher und großer im Kreise der anderen. Es sind Tartarengräber, und sie sehen genau so aus, wie die Hünengräber im nördlichen Deutschland. Viele davon sind geöffnet worden, man fand Menschengebeine und Waffen, in den großen immer Pferdegerippe; sie waren wohl die Grüfte der Häuptlinge. Auf manchen fanden sich rohe Statuen aus Granit; wer weiß, woher; in dem Dorfe Tiginka, welches wir passirten, steht eine solche wohl erhalten als Pfosten eines Thores; eine andere von genau derselben Form sah und zeichnete ich bei Baratofka am Ingul; sie krönte die Spitze eines hohen runden Hügels. Eine im letzten Kriege vorüberziehende Artilleriebrigade hatte sich das Vergnügen gemacht, sie zum Ziel zu erwählen, und ihr glücklich mit einer Kugel den Kopf vor die Füße gelegt. Gesichtszüge sind an diesen rohen Kunstwerken in Lebensgröße nicht zu erkennen, wohl aber der Helm mit rings herabfallendem Stahlhemd, wie bei den Kurden und Tscherkessen heute noch üblich; die Arme liegen auf der Brust gekreuzt ohne Andeutung der Hände, die Beine wurzeln in der Erde, die ganze Rückseite der Bildsäule ist flach.

Mittlerweile war es auf dem Bocke vor uns etwas lebendig geworden; mit heftigen Gesticulationen unterhielten sich seine beiden Insassen, endlich wandte Ilia sich herum und suchte das Auge seines Herrn, indem er mit ausgestrecktem Arme in die Ferne deutete. Mein Freund bog sich aus dem Wagenfenster, aber rasch fuhr er zurück: „Die Heuschrecken!“ rief er so laut, daß ich zusammenschrak.

Ich sah hinaus – es war nichts zu erblicken, als am Saume des Horizonts eine lange, schwarze Wolke.

„Das sind sie!“ sagte mein Begleiter.

„Unmöglich,“ erwiederte ich; „was Sie sehen, mag der Rauch eines großen Brandes sein, weiter nichts.“

„O, ich kenne sie leider nur zu gut,“ fuhr der Freund fort. „Dort der Zug ist keiner von den größten, aber seine acht bis zehn Werst ist er sicherlich lang. Was meinst Du, Iliuschka, mein Söhnchen,“ rief er auf russisch zum Wagenschlag hinaus, „was bedeutet jener dunkle Strich dort vor uns?“

Sarana – Heuschrecken," antwortete der Muschik.

Sarana,“ bekräftigte der Postillon und pfiff seinen Pferden.

Kopfschüttelnd, aber erregt lehnte ich mich hinaus und blickte unverwandt nach der finsteren Wolke; sie schien festzustehen am Himmel, hier und da sah man deutlich kleine Flatterwölkchen sich davon ablösen. Es war ein bänglicher Anblick, wie ein schweres Gewitter stand es dort im Süden vor uns, fast nicht zu glauben, daß ein Insectenschwarm solch’ einen Vorhang weben könne vor das helle Licht des Tages. Die Ueberzeugung durch den Augenschein war uns vorbehalten.

Nicht lange waren wir gefahren, da wies Ilia eifrig zur Rechten.

„Sie sind hier gewesen,“ sagte mein Freund, „halt Kutscher, stoi!“

Wir stiegen aus. Ein großes Hirsefeld lag hart an der Straße, aber nur noch erkennbar an den zahllosen grünen Stoppeln und an hier und da zerstreuten unreifen Rispen. Als wir den Acker betraten, erhob sich überall darauf ein Flittern und Schwirren, Tausende von Heuschrecken sprangen und flogen vor unserer Annäherung behend auf, das Sonnenlicht funkelte auf ihren glänzenden Vorderflügeln. Das ganze Feld, viele Dessätinen groß, war total abgeschrotet, nicht ein einziger stehender Halm war darauf zu entdecken, und die ungeheure Masse des noch grünen Getreides war verschwunden bis auf wenige Fahnen mit milchigen Körnern auf der Erde. Dagegen war die letztere bis einen Finger hoch bedeckt mit dem Auswurf der Heuschrecken, trockene Körper von der Gestalt eines Roggenkorns, aber stärker und länger. Nun begann eine Jagd auf die Nachzügler, sie war keineswegs leicht. Sobald wir in die Nähe der Insecten kamen, erhoben sie sich mit ungemeiner Fertigkeit; was nicht flog, das sprang in ellenweiten Sätzen, es gehörte Geduld und eine rasche Hand dazu, ihrer habhaft zu werden; aber den vereinten Bemühungen gelang es doch, ein paar Dutzend zu erhaschen. Bei ihrer näheren Besichtigung drängten sich mir einige nicht uninteressante Beobachtungen auf.

Wie mein erfahrener Begleiter vorausgesagt, hatten wir hier nur die Marodeurs und Kranken des großen Zugs, der in der Ferne schwebte, vor uns. In der That erwiesen sich von den Gefangenen nur einige Wenige dem äußeren Ansehen nach unverletzt, die Mehrzahl hatte entweder lädirte Flügel – sie sollen sich dieselben zuweilen gegenseitig abfressen – oder es fehlte einer der gewaltigen Springfüße. Was mir aber besonders auffallend erschien, war, daß ich mehrere Exemplare junger Heuschrecken, welche kaum die letzte Häutung überstanden und ganz kurze, unentwickelte Flügel hatten, unter

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