Seite:Die Gartenlaube (1859) 009.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Eine deutsche Frau in der Fremde.

Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben und sonnige, kernige Menschen mit ganz eigenem deutschen Wesen in Sprache, Kleidung, Gesittung und Gesinnung, manch’ „ehrlicher Junge“, zu dem das lachende Schätzchen sagt: „Du gode Jong’! wat häß Du doch e dröckelig Gemööth!“[1] Leute voller Humor und Spaß, die gelegentlich auch gern „eene Preuß’ uhtze“[2] und von dem jungen Burschen, der Soldat ward, sagen: „Hä mooht Preuß’ werde“.

Am Rhein, am Rhein, wo Beethoven und Johanna Kinkel und ihr Gatte, der Dichter des schon in 22. Auflage erschienenen „Otto des Schützen“, und mancher Ton- und Sprachdichter geboren wurden und Singvereine und Liederkränzchen in Menge blühen, da wächst und gedeiht auch eine heitere, deutsche Lebens- und Liederlust, ein rothwangiges, eigenes Volks- und Liebesleben, schöner, als in vielen anderen Landesstrichen.

Johanna Kinkel ist die einzige Tochter einer alten, echten rheinischen Familie, einer Kölnischen. Ihr Vater, Joseph Mockel, war Gymnasiallehrer in Bonn, wo sie, in der Vaterstadt Beethovens, am 8. Juli 1810 geboren ward. Ein Bruder starb schon in der Kindheit, so daß sie als einziges Kind aufwuchs, sich in ihren kindlichen Spielen an Einsamkeit und Selbstständigkeit gewöhnte, und das mit ihr geborne musikalische Talent früh entdeckte und zu nähren verstand. Ihre Erinnerungen an die früheste Kindheit fangen mit der Mutter an, wie sie einmal an ihr Bettchen trat und rief: „Kind, wach’ auf, wir haben ja Frieden!“

Schöner Ruf zum Erwachen des kindlichen Bewußtseins! Sie blühte auf unter den Segnungen des Friedens, der heiteren, reichen wissenschaftlichen, musikalischen, künstlerischen und industriellen Cultur Bonns, bis eines Abends plötzlich Krieg, grimmiger Revolutions- und Bürgerkrieg in ihr strahlend schönes und reiches Familienleben eingriff, der Gatte von vier schlafenden Kinderchen Abschied nahm und in Nacht und Kugelregen verschwand, und sie dann selbst, von den Kindern und einem Säuglinge getrennt, als einsame, verlassene, bedrohte, verfolgte, überall zurückgewiesene Gattin und Mutter zwischen preußischen Militairmassen umherirrte und nach den heldenmüthigsten, ausdauerndsten Anstrengungen körperlich und geistig zusammenbrach. – Im zwölften Jahre wurde sie Schülerin des berühmten Franz Rieß (letzten Capellmeisters des letzten Kurfürsten von Köln), bei welchem auch Ferdinand Rieß und Beethoven ihre erste Meisterschaft über die Töne gelernt hatten.

Johanna Kinkel.
(Nach dem vom Bildhauer Herrn Graß ausgeführten Relief-Portrait, gezeichnet von Herrn Böhm in London.)

Rieß lebte auf einem Gute bei Godesberg. Dorthin ging die zwölfjährige Johanna alle Wochen mehrere Male, um von dem Lehrer Beethoven’s auch Musik zu lernen. Später zog er nach Bonn, wo Johanna ihren Clavierunterricht fortsetzte und er noch manche Schüler bildete. Sie lebte fortan dem Hause, ihren Eltern und in allen Freistunden der Musik mit nur seltenen Ausflügen in Gesellschaft der Jugend gleichen Alters. – Im zweiundzwanzigsten Jahre vermählte sie sich mit dem Buchhändler Matthieux in Köln, trennte sich aber schon nach einem halben Jahre auf immer von ihm, da sie zu der festen Ueberzeugung gekommen, daß diese Ehe nie ihren innersten Ansprüchen des Herzens Befriedigung gewähren könne. Sie spricht sich darüber selbst so aus:

„Meine erste Heirath ist die Geschichte von Tausenden meiner Schwestern und das nothwendige Resultat unserer socialen Zustände. Unzählige Frauen gehen an ähnlichen Verhältnissen zu Grunde, indeß von einer ganzen Generation kaum eine den Muth hat, sich loszureißen und ihr besseres Selbst zu retten“ etc.[3]

Während der 10 Jahre bis zu ihrer Verehelichung mit Kinkel lebte sie ganz als gründlich studirende, ausdauernd arbeitende, strebsame und ausübende Künstlerin. Sie ging nach Berlin, um unter dem Capellmeister Böhmer einen ganzen, mehrjährigen, gründlichen Cursus im Generalbaß durchzumachen, und kam bald durch ihr eigenes Streben und Wirken in die gebildetsten Kreise. Sie lebte eine Zeit lang im Hause der Bettina v. Arnim und stritt sich Jahre lang ununterbrochen mit ihrem antagonistischen Freunde und trockenen, ruhigen Hegelianer, Geheimerath Henning. Die lebhafte, impulsive, junge, kecke Rheinländerin machte dem Philosophen auf dem Berliner Sande viel zu schaffen. Sie gab ihm in Festhaltung und dialektischer Durchführung ihrer Behauptungen nichts nach, so daß sie stets zusammenkamen, um begonnenen Krieg fortzusetzen.

Nach Vollendung ihrer Generalbaßstudien trat sie als Componistin auf. Es waren Lieder und ihre berühmteste, populärste Composition: „Die Vogel-Cantate“, die mit Flügeln und Schnäbeln ausgeführt wird, um den Streit der Singvögel um die Directorstelle (Satire auf die vielen Director-Candidaten in Bonn) recht anschaulich zu machen. Text und Composition sind ganz von ihr selber, so daß sie als die genialste Schöpferin des Komischen in der Musik (eine der größten Seltenheiten) angesehen werden kann. Bald darauf eine Operette: „Die unterbrochene Landpartie“, die, wie üblich, der Regen vereitelt, so daß eine Arie unter dem Regenschirme gesungen wird, während die Musik mit aller Macht, deutlich und täuschend, als Regen auf den Schirm niederprasselt.

Als Künstlerin war sie bereits so berühmt geworden, daß man der Prinzessin von Preußen, die geistvolle, belebende Musik hören wollte, keine geeignetere vorzuschlagen wußte, als Johanna Kinkel. Ihre Königliche Hoheit saß dem Professor Beyrs zu ihrem Portrait, der, um ihr Gesicht in der geistvollsten Belebung auffassen zu können, zu guter Musik rieth. So kam Johanna Kinkel zu der glücklich gelösten Aufgabe, durch ihre Töne den Ausdruck des geistvollen

  1. Herzlich Gemüth.
  2. Uhtze, huhtzen = zum Besten haben, foppen.
  3. Erinnerungsblätter aus dem Jahre 1849. Von Johanna Kinkel“, im Aprilhefte der „Deutschen Revue“ 1851.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_009.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)