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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Rath des Collegiums. Er war ein braver, redlicher, selbst ebenfalls wohlwollender Mann. Aber er hatte die strengsten biblisch-religiösen Ansichten. Und zu diesen gehörte jener Satz: Wer Menschblut vergießet, dessen Blut soll wieder vergossen werden. Hier hatte gar ein Kind das Blut des eigenen Vaters vergossen. Er hatte nach seiner innersten Ueberzeugung den Tod beantragt. Er hatte nicht anders gekonnt.

Der gerade Gegensatz von ihm war der erste Referent. Er war der zweitjüngste Rath des Gerichtshofes und war, was man sagt, ein feiner Kopf, er glänzte mit seinen gelehrten Kenntnissen. Er war von Adel, wollte befördert werden, und eine glänzende Carriere machen. Er kannte die Bedeutung jenes biblischen Satzes für den Regenten des Landes. Diesem mußte das Todesurtheil mit den Originalrelationen zur Bestätigung vorgelegt werden. Er hatte den Tod beantragt.

Von den übrigen Richtern war der jüngste ein junger Assessor, der gleichfalls seine Carriere machen wollte. Er hatte im Collegium noch nie eine andere Meinung ausgesprochen, als die des Rathes, der eine glänzende Carriere vor sich hatte und, nachdem er selbst befördert war, auch Andere befördern konnte. Er hatte dessen Ansicht nur mit neuen Gründen unterstützt, wodurch die bereits vorgetragenen Gründe in ein um so helleres Licht treten mußten.

Dann kamen zwei Räthe, von denen der Eine ein eben so klarer, scharfsinniger Kopf, wie ein warmes edles Herz, der Andere aber eine indolente und schon deshalb stets für das Mildeste gestimmte Natur war.

Es war noch der älteste Rath da. Von ihm muß ich näher sprechen. Das Schicksal der Inquisitin hing von ihm ab.

Er hieß Rohner und war ein eigenthümlicher Mensch. Schon sein Aeußeres zeigte das. Seine Gestalt war groß, breitschulterig, knorrig. Sein Gesicht war breit, starkknochig, eckig. Die Nase war stark gebogen, die Lippen fest zusammengekniffen, die Augen klein, pechschwarz; unter den langen, buschigen, dunklen, schon etwas grau gefärbten Brauen leuchteten sie in einem stillen, aber desto unheimlicheren Feuer. Wehe, wenn das Feuer zur wilden Flamme aufloderte! Er war in der Mitte der fünfziger Jahre. Er machte den Eindruck eines scharfen, überlegten Geistes, aber eines harten Herzens, in dem die Härte zur Leidenschaft geworden ist. So war er auch. Seiner Dialektik konnte Niemand im Collegium widerstehen. Seine Härte fürchtete selbst jener biblisch strenge Rath. Die Welt nannte ihn boshaft.

Daß er an keinen Gott, an kein anderes Leben glaube, daraus machte er selbst kein Hehl.

„Er hat noch nie gebetet!“ sagten die Leute von ihm.

Er selbst widersprach nicht.

Aber sein Leben und sein Charakter waren unantastbar rein, und wenn er auch ein strenger, selbst harter Richter war, er war der Ueberzeugung, daß das Gesetz, das Recht es so von ihm fordere, und wie seine Ueberzeugung unerschütterlich fest war, so handelte er auch unerschütterlich fest nach ihr.

In seinem Lande garantirte das Gesetz die Unabhängigkeit der Richter. Sie konnten nur durch Urteil[WS 1] und Recht wegen strafbarer Handlungen ihres Amtes entsetzt werden. Der Monarch achtete das Gesetz. Sonst hätte eine frömmelnde Partei im Lande sich längst seiner zu entledigen gewußt.

Das waren die Richter, die über Tod und Leben der Inquisitin sich schon ausgesprochen hatten, und sich noch aussprechen sollten.

„Meine Herren,“ sagte der würdige Präsident, „meine Stellung verbietet mir, auf Ihr Urtheil irgend einwirken zu wollen. Aber mein Gewissen fordert von mir, Ihnen eine dringende Bitte an das Herz zu legen. Bevor Sie Ihr letztes Votum abgeben, wollen Sie zwei Umstände wohl und reiflich überlegen. Von der einen Seite suchen Sie sich völlig klar zu machen, ob denn die Inquisitin wirklich zu der Ermordung ihres Vaters hat mitwirken wollen; denn nur bei diesem Willen kann sie Complottantin sein. Müssen Sie nach Ihren, besten Gewissen diese Frage bejahen, neigen Sie dann auch der bestrittenen – ich bitte wohl zu beachten, meine Herren – der bestrittenen, zweifelhaften, strengeren Ansicht sich zu, daß jeder Complottant beim Morde, als solcher, mit dem Tode bestraft werden müsse: dann wollen Sie prüfen, ob wir es nicht hier mit einem unglücklichen, verwahrlosten und verführten jugendlichen Geschöpf zu thun haben, dem so viele Milderungsgründe zur Seite stehen, daß die Ausschließung der Todesstrafe gesetzlich gerechtfertigt, also nothwendig erscheinen dürfte.“

Es wurde von unten auf gestimmt. Die Autorität des Aelteren soll dem Jüngeren nicht imponiren, ist die Absicht des Gesetzes dabei.

Der Assessor stimmte zuerst. Er trat in einem glänzenden, einstudirten Vortrage den beiden Referenten bei. Für die Ausführung des ersten Referenten über den eventuellen Dolus und die gleiche Bestrafung aller Complottanten konnte er noch eine Menge Aussprüche der neuesten deutschen Criminalisten beibringen. Er freute sich, in solcher Weise der Ansicht der beiden Herren Referenten, besonders des ersten, nur beitreten zu können.

Er freute sich!

Der Rath, der auf ihn folgte, widerlegte ihn und die beiden Referenten. Er widerlegte sie schlagend.

„Der eventuelle Dolus ist ein logisches Unding. Der Mensch kann etwas nur bestimmt oder gar nicht wollen. Er kann auch nur das wollen, von dem er eine Kenntniß hat. In dem vorliegenden Falle ist mit nichts bewiesen, daß die Inquisitin Kenntniß von dem Mordplane ihrer Mutter und ihres Liebhabers hatte. Man kann nur Vermuthungen darüber aufstellen. Diese zur Gewißheit zu erheben, verbietet das Gesetz, und ist gewissenlos. Die Inquisitin kann hiernach nicht Complottantin sein.

„Wäre sie aber auch als solche zu betrachten, so kann nur eine verknöcherte Gelehrtentheorie, die von den Erfahrungen des Lebens nichts weiß, die sämmtlichen Complottanten mit der nämlichen Strafe, beim Morde mit der Todesstrafe, belegen wollen. Der gerechte Richter bestraft Jeden nur nach dem, was er gewollt und gethan hat, und niemals Jemanden, der nur eine entfernte Hülfe zum Morde geleistet hat, mit dem Tode.

„Wäre aber auch dem nicht so, wir haben hier ein armes, schwaches, kaum neunzehn Jahre altes Mädchen vor uns, das durch höllische Künste der eignen Mutter ein volles Jahr lang planmäßig verführt worden ist, und im letzten Momente noch durch Zufall und Ueberraschung einem moralischen Zwange unterworfen wurde. Wenn Jugend, Unerfahrenheit und Verführung je als gesetzliche Milderungsgründe gelten müssen, so ist es hier der Fall. Ich stimme gegen die Todesstrafe.“

Der träge und milde Rath hatte sein Votum abzugeben. Er trat lediglich seinem Herrn Vorgänger bei, und sprach sich aus den von diesem entwickelten Gründen gleichfalls gegen die Todesstrafe aus.

Drei Stimmen waren für, zwei waren gegen die Todesstrafe da.

Der Rath Rohner hatte zu stimmen. Es kam Alles auf sein Votum an. Stimmte er gegen den Tod, so standen die Stimmen der sechs Mitglieder gleich, und der Präsident hatte den Ausschlag zu geben, Niemand aber zweifelte, daß dieser gegen ein Todesurtheil sich aussprechen werde.

Stimmte der Rath Rohner dagegen für die Todesstrafe, so waren für diese vier Stimmen gegen zwei da, auf das Votum des Präsidenten kam es nicht weiter an, das Todesurtheil stand fest.

Aller Blicke waren auf den Rath Rohner gerichtet.

Im Saale herrschte wieder die tiefe, feierliche Stille der gespannten Erwartung. Jeder kannte die Strenge, die Härte des Mannes, in dessen Händen jetzt ein Menschenleben lag. Jeder fürchtete diese Strenge, diese Härte.

Auch heute. Ja, auch heute. Zur Ehre der Menschlichkeit sei es gesagt.

Der fromme Rath war in seinem Gewissen beruhigt, da er für den Tod sich ausgesprochen hatte. Der ehrgeizige Rath wußte, daß seine Relation unter allen Umständen dem Landesherrn zu Gesicht kommen werde. Der Assessor hatte seinem Gönner feinen Weihrauch gestreut.

Ein Gewissen hat jeder Mensch, wenn es ihm auch noch so tief in der Brust verborgen ist. Und wenn der Mensch über ein Menschenleben zu Gericht sitzen soll, dann wird auch der leiseste Laut dieses Gewissens für ihn zu einer mahnenden Donnerstimme. Er ist ein strenger, harter Mann. Aber es handelt sich um ein so junges Leben, um ein verführtes Herz, um Spitzfindigkeiten und Künsteleien einer tobten Schultheorie. Sollte er nicht heute einmal der mildern Ansicht Raum geben?

So sahen Alle auf ihn, in fast ängstlich lauschender Spannung. Und er saß mit seiner breiten, eckigen Gestalt, seinem starken, knorrigen Gesichte, den fest zusammengepreßten Lippen, so kalt, so unbeweglich da. Von seinen Augen konnte man nichts sehen; die tief herabgezogenen, buschigen, grauen Augenbrauen verbargen sie völlig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Urtel
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_003.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)