Seite:Die Gartenlaube (1858) 748.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Berührung mit unserer Delinquentin gekommen war — sie Beide benutzten Mitte September l. J. eine Woche ihrer Herbstferien zu einem Ausflug in die fränkischen Gaue, dessen Hauptziel der Ort sein sollte, wo sie Carolinen finden würden. Galt es doch auch, was Einige noch immer bezweifelten, ihre Identität mit der Kunigunde Lechner festzustellen. Diese Identität bestand allerdings, und zwar fanden die Herren Carolinen, nachdem sie sich vorher deshalb mit dem königl. bairischen Landgericht zu Neustadt persönlich benommen hatten, in der Zwangs-Arbeitsanstalt zu Kloster Ebrach. Dieses ehemals so reiche und große Cisterzienser-Kloster liegt äußerst romantisch in einem Thale des Steigerwaldes, etwa fünf Stunden westlich von Bamberg, und beherbergt an siebenhundert Verbrecher! Unter ihnen auch jetzt neuerdings wieder unsere bekannte „Unbekannte“, die Heldin unserer Geschichte.

Folgende Mittheilungen über ihre Vergangenheit und Gegenwart verdanken wir den umsichtigen Nachforschungen und Ermittlungen, welche beide Herren in dortiger Gegend, und zwar besonders beim Gerichte zu Neustadt, in Ebrach und am Orte ihrer Geburt über sie anstellten.

Dieser Ort ist Linden, woselbst unsere ungarische Magnatentochter am 23. Mai 1831 das Licht der Welt erblickte. (Ihr Alter betrug demnach bei ihrer Hierherkunft 22½ Jahre, was ziemlich mit den hierüber aufgestellten Annahmen [22—24 Jahre] stimmt, dermalen 27½ Jahre.) Linden ist ein sehr kleines und armes Dorf, die Gemeinde eine Filiale der evangelischen Pfarrei Gerhardshofen, Landgerichtsbezirks Neustadt a. Aisch und etwa 2½ Stunden von da entlegen. Die ganze dortige Gegend, zum ehemaligen Fürstenthum Ansbach und Baireuth gehörig, bildet nämlich eine protestantische Enclave des katholischen Baiern. Auch Kunigunde ist protestantisch getauft und confirmirt worden. Sie ist das uneheliche Kind der Anna Barbara Lechner aus Linden, welche sich einige Jahre darauf mit dem Steinhauer Nahr von da verheirathete. Dieser Mann, welchen die Herren, als sie nach Linden kamen, nicht sprechen konnten, da es hieß, er liege auf den Tod krank darnieder, erfreute sich daheim und in der Umgegend nie des besten Rufes. Als „die Gundel“, wie man sie dort allgemein nannte, sechs Jahre alt war, starb ihre Mutter. Der Stiefvater verheirathete sich wieder, und so bekam das Mädchen auch noch eine Stiefmutter. Bei diesen Stiefeltern, mit denen sie durch keinerlei Bande des Blutes verknüpft war, hatte es die Kleine schlecht genug. Die Leute waren überdies sehr arm, und Nahr schickte die Gundel und zwei jüngere Geschwister schon von klein auf betteln. Mit einem Rechen, den sie anscheinend zum Verkauf anboten, zogen sie im Lande herum; unter dieser Maske aber betrieben sie den geschäftsmäßigen Bettel. Wenn sie nichts mit heimbrachten, bekamen sie noch, wie das so in den Lehrjahren der freien Kunst des Bettelns üblich ist, Schläge dazu. Dies veranlaßte Kunigunde, bei der unter solchen Umständen von einer Erziehung nicht die Rede sein konnte, das Weite zu suchen. Als sie durch die Polizei wieder heimgebracht wurde, verweigerte der Stiefvater (ihr rechter Vater war schon früher nach Amerika ausgewandert) ihre Aufnahme. Sie ging deshalb, wie man dort zu Lande sagt, bei den Ortsbewohnern „in die Zeche“, d. h. da die dortige Gemeindecasse nicht im Stande ist, für uneheliche Waisen (und eine Waise war ja Kunigunde gewissermaßen) Pflegegeld zu bezahlen, so müssen die Bewohner solche Kinder der Reihe nach aufnehmen und ernähren. Die Behandlung, welche der ungebetene Gast hierbei genoß, wird sicher auch nicht die beste gewesen sein, und wirklich entzog sich Kunigunde durch neue Entweichungen in größere Ferne diesem Zustand noch öfter, wurde aber immer wieder heimgebracht.

Weil sie die Schule in dem benachbarten Orte Birnbaum (denn in Linden selbst ist keine) so wenig und so lückenhaft besucht, wurde sie erst im 15. Lebensjahre, nämlich auf Pfingsten 1846 zu Gerhardshofen confirmirt. Sie bekam bei dieser Gelegenheit im Confirmandenregister bezüglich ihrer Befähigung (!), ihres Fleißes und ihrer Kenntnisse die schlechteste Nummer!! Etwas Lesen, Schreiben und einige Bibelsprüche hat sie sich aber doch jedenfalls angeeignet. Es währte nicht lange, so entfernte sie sich auf’s Neue von ihrer Heimath. Um nicht wieder dahin zurückkehren zu müssen, verheimlichte sie, im südlichen Baiern aufgegriffen, drei Vierteljahre lang Name und Herkunft, und blieb während dieser Zeit fortwährend in Untersuchungshaft. Auf Grund dieses Schweigens erhielt sie dann, als sie sich endlich doch zu erkennen gab, ihre erste eigentliche Strafe, indem man sie auf ein Vierteljahr als Novize nach Kloster Ebrach schickte.

Nicht lange nach überstandener Strafe ging sie weiter, als je zuvor – nämlich nach Ungarn. Dies war im Jahre 1848. Nach mehrjähriger Abwesenheit daselbst (sie hat also gerade die Zeit während der Revolutionskriege in Ungarn verlebt, und verdankt sicher ihren dortigen Erlebnissen manche Erfahrungen, die sie später für ihre Geschichte verwerthete) wurde sie abermals wieder in ihre Heimath zurückgebracht. Zum zweiten Mal wurde sie Bewohnerin von Kloster Ebrach. Als sie ihre Strafzeit überstanden, brachte sie das große Meisterstück ihres Lebens, das sie sich vermuthlich im Stillleben ihrer Zelle ausgedacht, zur Ausführung. Sie hatte beschlossen, um erfolgreicher als bisher aufzutreten, die Rolle eines verstoßenen oder geraubten und ausgesetzten Kindes von vornehmer Herkunft zu spielen, und überschritt zu diesem Behufe abermals die bairische Landesgrenze. Wo und wie sie diese Rolle spielte, ist dem Leser bereits zur Genüge bekannt geworden.

Wegen wiederholten Vagabondirens ist Kunigunde zu neuer achtmonatlicher Haft verurtheilt. Bei diesem Urtheil ist also ihr kolossaler Betrug gar nicht mit in Frage gekommen, entweder weil er, den eigenthümlichen Umständen gemäß, nach dortigen Gesetzen gar nicht strafbar ist, oder man ließ ihn absichtlich fallen, um der freiwillig und wie es schien, reumüthig Geständigen kein allzuhohes Strafmaß zuerkennen zu müssen, was man formell um so eher konnte, als kein Kläger gegen sie auftrat. Und, „wo kein Kläger, da kein Richter.“ Sie war nur verurtheilt, weil sie sich neuerdings ohne Papiere auf offener Landstraße einherziehend hatte betreten lassen.

Der Herr Landrichter zu Neustadt, welcher uns als ein äußerst humaner Mann geschildert wird, hat den Offenbacher Herren erklärt, ihr jetziges Auftreten und Benehmen unterscheide sich in jeder Hinsicht auf's Vortheilhafteste von ihrem früheren, und die ihr in Offenbach zu Theil gewordene Erziehung gebe sich in ihrem ganzen Wesen auf’s Unzweideutigste kund. Er bezeugt ihr überdies, daß in dem dicken Actenstoß, den er über sie besitze, von Unehrlichkeit und unzüchtigem Wandel, wie sich dies auch von ihrem hiesigen Leben sagen läßt, nichts enthalten, und sie bisher lediglich wegen Landstreicherei in Strafe gekommen sei. Ueber ihre Vergangenheit und ihre jetzigen Aussagen hat er ein ausführliches Schriftstück entworfen, das für die hiesige Behörde bestimmt ist, und von dem wir nur nicht zu begreifen vermögen, warum es nicht längst schon hierher abgesandt wurde. Wären aber nicht jene Herren persönlich nach Neustadt gereist, so wüßten wir wahrscheinlich bis heutigen Tages noch nichts officiell, wer und was „Caroline“ eigentlich war und ist, und – das ist zum Mindesten nicht sehr höflich von jener Stelle gewesen, die man von hier aus deshalb wiederholt um Auskunft anging!

In ihren zu Protokoll genommenen Aussagen erklärte Kunigunde auf das Entschiedenste als Grund ihrer Entweichung von Offenbach: daß ihr die Sünde, sich noch ein Mal taufen und confirmiren zu lassen, zu schwer erschienen sei, als daß sie dieselbe auf sich zu laden vermocht habe. Ferner erklärte sie zu Protokoll, daß ihre Rolle im Anfange leichter gewesen, als gegen das Ende – während Verfasser dieses, wie sich der Leser erinnern wird, gerade das Gegentheil vermuthete, und wohl alle Leser mit ihm. Denn „ce n’est que le prémier pas qui coûte“, und es deuchte uns leichter zu reden, denn zu schweigen, und leichter natürlich zu reden, als verstellt. Anders Carolinen. Wie leicht ihr das Schweigen fiel, hatte sie damals schon bewiesen, als sie drei Vierteljahre lang ihren Namen verschwieg; und die sprachliche Verstellung selbst scheint für sie mindere Gefahr der Entdeckung mit sich geführt zu haben, als ihre Stellung, nachdem sie anscheinend so viel Deutsch erlernt hatte, sich mit größerer und endlich mit völliger Freiheit darin auszudrücken. Denn jetzt erst, sagt sie, sei sie stündlich Gefahr gelaufen, sich zu verrathen, jetzt, wo sie reden konnte und nun auch überall reden, erzählen, sich mittheilen sollte, wo Jedermann ihre Geschichte im Zusammenhang wieder und immer wieder von ihr hören wollte, und sie doppelt auf der Hut sein mußte, sich nie zu widersprechen, was früher, wo sie nur sehr wenig und sehr abgebrochen, unzusammenhängend sprach, bei weitem nicht so sehr zu fürchten gewesen. Auch habe sie durchaus nicht so viel zu erzählen gewußt, als sie nun absolut erzählen sollte. Darum und nur darum habe sie sich auch zwingen müssen, so unliebenswürdig zu sein, sich von den Menschen abzusondern, zurückhaltend, wortkarg, einsylbig zu werden, oder eigentlich nur zu scheinen. Sie sei in beständiger Furcht gewesen, sich zu verrathen, und diese Furcht habe sie manche Nacht nicht

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_748.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)