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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

ein Bekenntniß ablegen konnte. Seine Erzählung läßt sich in Folgendem zusammenfassen.

Marie Anne war mit dem Steuermann des „Pawlowsk“ früher bekannt gewesen, als mit Henricksen. Der unbändige Esthe in seiner Naturwüchsigkeit machte auf das weiche und sich leicht anschmiegende Gemüth des jungen Mädchens einigen Eindruck. Ohne eigentlich Neigung zu Veen zu fühlen, war der seltsam geartete Mensch ihr doch auch nicht gleichgültig, Sie fürchtete sich vor ihm und ließ es doch geschehen, daß er ihr Aufmerksamkeiten erwies. Von Heirathsanträgen war indeß zwischen Beiden niemals die Rede gewesen.

Da lernte Marie Anne den jungen Henricksen kennen. Dieser war viel weniger keck, bei Weitem nicht so leidenschaftlich, als Torkel Veen, aber er zeigte Herz, und in seinem Auge konnte Marie Anne lesen, daß er sie liebe, mit Zärtlichkeit lieben werde. Henricksen machte kein Geheimniß aus seiner Leidenschaft und zauderte nicht, dem Mädchen, das ihm gefiel, seine Hand anzutragen. Marie Anne beglückte diese Werbung, aber sie wagte sie nicht sofort anzunehmen. Sie selbst war ein ganz unbemitteltes Dienstmädchen, und Henricksen fuhr als Matrose auf einem Grönlandsfahrer! Das gab nicht die besten Aussichten auf eine glückliche Zukunft, und darum zögerte sie, damit nicht ein übereilt gefaßter Entschluß sie später gereuen möge.

Henricksen ging inzwischen wieder zu Schiffe und Marie Anne hatte sonach Zeit, mit sich selbst zu Rathe zu gehen. Vor seiner Rückkehr ankerte der „Pawlowsk“ wieder in der nahen Hafenstadt, und schon ein paar Tage später begegnete der ungebärdige Steuermann des russischen Schooners dem jungen Mädchen.

Marie Anne wollte ihn meiden, aber Torkel Veen ließ sich so leicht nicht abweisen. Gezwungen mußte das geängstigte Mädchen ein Tanzlokal mit ihm besuchen, und als sie schieden, knüpfte er ihr fast mit Gewalt ein ganz neues Tuch um den Hals. Um den Heftigen nicht zu beleidigen, ließ sie es geschehen, legte es aber, nach Hause gekommen, sogleich wieder ab. Hier sah es ihre Freundin, die Tags darauf zufällig zu ihr kam. Leonore gefiel das Tuch und sie wünschte zu erfahren, wo sie es gekauft oder von wem sie es bekommen habe. Marie Anne hielt mit der Sprache zurück und Leonore vermuthete ein geheimes Verhältniß. Da gewahrte die Freundin Henricksen auf das Haus zukommen. Sogleich verbarg Marie Anne das Tuch und eilte dem Kommenden mit offenen Armen entgegen. Ihr Herz sagte ihr, daß kein Anderer sie besser vor den immer zudringlicheren Nachstellungen des heftigen Esthen schützen könne, als dieser ruhige, treue und ehrenwerthe Jugendgenosse, ihr Freund und Landsmann, den sie eben so gut kannte, wie sich selbst. Sie wußte jetzt, daß sie ihn, ihn ganz allein liebe, und sie war fest entschlossen, auf einen seinerseits erneuerten Antrag mit freudigem „Ja“ zu antworten.

Dieser Antrag blieb nicht aus und ehe noch der Tag verging, war Marie Anne die Braut Henricksen’s. Von ihrem Zusammentreffen mit Torkel Veen schwieg aber das Mädchen gegen ihren nunmehrigen Verlobten, da sie besorgte, ein zufälliges Begegnen beider Männer könne bei den wüsten Neigungen des Esthen, die ihr nicht entgangen waren, und bei der innigen Zuneigung Henricksen’s, von der sie überzeugt war, zu unangenehmen, wo nicht gar feindseligen Auftritten führen.

Torkel Veen hatte von dem Verlöbniß Marie Anne’s keine Ahnung. In der Hoffnung, es werde ihm gelingen, das heitere Mädchen dauernd sich zu erringen, kam er Abends, bald nach Henricksen’s Fortgang, in das Haus des Küsters. Der Empfang Marie Anne’s, der kühl, gemessen und auch befangen war, machte ihn stutzig. Er ward ungeduldig, bald sogar heftig und ungestüm. Das geängstigte Mädchen fürchtete eine Scene, die sie in ihrem eigenen Interesse zu vermeiden wünschte. So schlug sie denn vor, dem Ungestümen auf einem Spaziergange nach dem Deiche eine Eröffnung zu machen, welche ihr Benehmen rechtfertigen sollte. Um zu beweisen, daß sie ihm freundlich gesinnt sei und dies auch fernerhin zu bleiben wünsche, schlang sie das von Veen erhaltene Tuch um den Hals und verließ, wie sie meinte, unbemerkt das Haus ihres Brodherrn.

Marie Anne ging eine Zeit lang neben Torkel Veen fort, ohne auf dessen sehr bestimmte Anträge zu antworten. Erst als sie sich ganz unbeachtet sah – der Deich und hinter diesem die See lag bereits dicht vor ihr – erklärte sie mit kurzen Worten dem Esthen, daß sie sich vor wenigen Stunden einem Jugendfreunde verlobt habe.

Es war ein Unglück, daß die Nähe der See durch das starke Geräusch der brandenden Wogen jeden andern Laut erstickte. Kaum hatte Torkel Veen das Geständniß des Mädchens vernommen, das er bereits zu besitzen glaubte, so übermannte ihn die Raserei seines ungebändigten Naturells. Ohne ein Wort zu erwidern, umschlang er sie mit starkem Arme, um sie seewärts nach dem Nachen zu tragen, der hier bereit lag, damit der Steuermann sich in demselben nach dem draußen im Meer vor Anker liegenden Schooner zu jeder Zeit begeben könne. Marie Anne aber entwand sich geschmeidig seiner Umarmung und entfloh unterhalb des Deiches ihrem Verfolger.

Eine kurze Zeit behielt sie einen Vorsprung, da kreuzte ein Graben ihren Pfad. Schnell entschlossen übersprang sie diesen und eilte die Deichböschung hinauf. Torkel Veen aber hatte sie schon erreicht. Er faßte ihr Gewand, sie strauchelte und fiel, und im Ringen mit dem erhitzten Verfolger verlor sie das Tuch. Der leichte Wind trieb es fort in einen Ginsterbusch, wo es hängen blieb.

Marie Anne’s Widerstreben half ihr jetzt nichts mehr. Torkel Veen bemächtigte sich ihrer, trug sie in seinen Nachen und ruderte mit der Geraubten hinaus auf’s Meer. Aber es war noch nicht dunkel genug, um die Entführte unbemerkt an Bord des Schooners bringen zu können. Der Esthe kehrte deshalb nochmals um, und lief in eine Wehle unter dem Deiche ein, bis er sich gesichert glaubte. Auf den ihn begleitenden Matrosen durfte er sich verlassen. Die Widerstrebende ward hier gebunden und geknebelt, und so gelang es dem unbändigen Manne, der so leicht vor keinem Unternehmen zurückschrak, das unglückliche Mädchen ungesehen an Bord zu schaffen und es hier zu verstecken. Am nächsten Morgen schon lichtete der „Pawlowsk“ die Anker und stach in See. Die Gewaltthat Veen’s mußte am Lande Jedermann ein Geheimniß bleiben.

Wie sorgsam aber auch der leidenschaftliche Esthe seine Gefangene bewachte, die tief im Räume zwischen Ballen und Fässern ein trauriges Dasein führte, eine Ahnung des Geschehenen stieg doch in der Seele des Capitains auf. Er hielt es indeß für zweckmäßiger, zu schweigen. Torkel Veen war ein unerschrockener Seemann, der sich nicht leicht wieder ersetzen ließ. Ertappte er ihn aber auf einem offenbaren Verbrechen, so mußte dessen Entfernung vom Schiff doch die allergeringste Züchtigung sein. Auch scheuete er des wilden, schwer zu behandelnden Menschen gewaltthätigen Sinn. So schwieg denn der Capitain, bis der Schooner in Reval einlief.

Nun aber hatte er jeder Zeit ein scharfes Auge auf seinen Steuermann, der sich täglich ungebehrdiger zeigte und sichtlich verwilderte. Er überraschte ihn, als er das unglückliche Mädchen heimlich ans Land schaffen wollte. Es kam zu einem sehr heftigen Auftritte, der mit der Verhaftung des Frevlers endigte. Marie Anne ward einstweilen dem Schutz der Obrigkeit übergeben, um später, wenn die nähern Umstände ihrer gewaltsamen Entführung genauer erforscht sein würden, über sie zu verfügen. Leider hatte man aber bei Veen’s Verhaftung dessen Charakter nicht richtig beurtheilt. Schon in der ersten Nacht entkam er seiner Haft, und wußte sich auch schlau seines Opfers wieder zu bemächtigen. Er verschwand mit der zum zweiten Male Geraubten, und Niemand erfuhr, wohin der wilde Esthe gekommen sei.

Bald darauf begannen die Räubereien zu Wasser und zu Lande. Es dauerte viele Monate, ehe man die eigentlichen Urheber derselben ermittelte. Ein paar Mordthaten erst leiteten auf die rechte Spur. Der verschwundene Torkel Veen stand an der Spitze der verbrecherischen Rotte, die eine große Strecke der Küstengegend und das Meer zwischen den Inseln und Klippen besonders für Küstenfahrzeuge unsicher machte. Nur durch große Vorsicht entdeckte man endlich den Schlupfwinkel dieser neuen Flibustier. Dieser befand sich in einer schwer zugänglichen Höhle oder vielmehr einer geräumigen Felsenspalte, die sich mehrfach verzweigte. Nur bei ganz ruhigem Wetter konnte man ohne Gefahr in der Nähe dieses Versteckes landen, und sollte dies unbemerkt von denen geschehen, die jeder Zeit darin weilten und auf den leisesten Laut, der ihnen verdächtig erscheinen mochte, lauschten, so konnte eine Überrumpelung mit einigem Erfolg nur bei dicker Nebelluft versucht werden.

Zur Ausführung dieses schwierigen Unternehmens schritt man in jener Nacht, wo die „Olga“ unfern der felsigen Küste ankerte. Die Überrumpelung gelang über Erwarten, sie kostete aber viele Menschenleben. Nur Wenige der Verbrecher wurden lebend ergriffen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_742.jpg&oldid=- (Version vom 12.11.2020)