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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Die Privat-Irrenanstalten.
Von Dr. juris Thesmar in Köln.
(Schluß.)


„Wir erwähnten und haben gerade darauf immer das stärkere Gewicht für die ganze Beurtheilung dieses unseligen Handels gelegt, daß Schuhmacher ohne alle und jede vorgängige Rechtsprocedur in ein Irrenhaus versetzt wurde; denn darin, gerade darin glauben wir den Grund für die tiefe und schmerzliche Verletzung zu erkennen, von der sich das öffentliche Bewußtsein in diesem Falle getroffen fühlte, sodann aber auch den Grund überhaupt, warum Hergänge, wie diese, in einer Zeit, wie der unsrigen, überhaupt noch möglich gemacht werden können. Wahrhaftig, wer es nicht erlebt und mit angesehen, der würde es trotz tausend heiliger Betheuerungen nicht glauben wollen, daß noch im Jahre 1858 des Herrn, mitten im Schooße der humanisirten und bis auf minutiöse Heimlichkeiten polizirten Gesellschaft und unter den Augen der Gesetze, der Erste der Beste auserwählt, zu einer Spazierfahrt eingeladen oder gar ergriffen und geknebelt, in einen bereitstehenden Wagen gesetzt und an den Pforten irgend einer unheimlichen Spelunke, die sich Privat-Irrenhaus nennt, abgesetzt, hineingeschoben und, so zu sagen, lebendig todtgemacht werden könne. Und doch ist gerade diese Procedur diejenige, zu der die arglistigen Künste der Ungerechtigkeit darum am allerhäufigsten greifen, weil sie sich damit ohne gar große Mühe in den Vortheil eines fait accompli, nämlich jener vollendeten Thatsache setzen, daß ihr Opfer von vorn herein für verrückt angesehen und erklärt wird. Denn wer nur erst zu Verrückten gesperrt worden, wer nur erst einmal die Unbilden erfahren, von irgend welchem, ob auch nur mit einem Quentchen von Competenz versehenen sogenannten Seelenarzte für irrsinnig oder selbst nur für einen solchen erklärt zu sein, mit dem es „nicht ganz richtig“ sei, für den müßte der barmherzige Gott selbst vom Himmel steigen, um zu verhindern, daß er nicht verrückt, daß nicht sein Denken und Empfinden, sein ganzes intellectuelles Vermögen bis auf die Fasern heimgesucht und vollständig getrübt und zerrüttet würde. Ist man mit dem armen Opfer nur erst dahin gekommen, daß man es thatsächlich unter Schloß und Riegel eines Irrenhauses hat, daß es für irrsinnig angesehen, als ein irrsinniges Geschöpf behandelt wird, dann hat es um alles Andere keine sonderliche Noth; man hat es durch die Barbarei dieser schreienden Ungerechtigkeit dann schon halb um sein Selbst gebracht und nebenher das allgemeine Urtheil in Beschlag genommen, es unsicher und befangen gemacht, und auf viel mehr kommt es in allen solchen Fällen nicht an, um das desperateste aller Majestätsverbrechen an der menschlichen Natur zuletzt dennoch durchzusetzen und, was unendlich beklagenswerther ist, jedenfalls straflos davon zu kommen. Man hat, wie die Sache auch komme, dann doch immer schon einen Arzt, wenn nicht selbst zwei, welche die Wahnsinns-Erklärung aufrecht erhalten, und mit dieser Wendung sieht sich das Gesetz in ein unentwirrbares Labyrinth versetzt.

„Man sollte kaum glauben, daß das möglich sei, und doch ist es möglich und geschieht alle Tage. Referent wäre in der Lage, an diesem Orte ein Stückchen aus seinen eigenen unmittelbaren, noch ganz frischen Erlebnissen zum Nachdenken empfehlen zu können. Allein er verzichtet darauf, zumal es gelungen ist, das in diesem Falle ausersehene Opfer, eine Dame von großer Bildung des Geistes und Herzens, die Mutter von Kindern, die langjährige Dulderin einer unglaublich harten Schickung, dem hereingebrochenen Verhängnisse wieder zu entreißen. Auch ist es nicht dieser oder jener einzelne Fall, auf den es hier ankommt; es handelt sich vielmehr zunächst um die Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß dergleichen noch geschehe, und diese Frage allein schon treibt jedem Denkenden die Schamröthe in’s Gesicht; denn sie deutet auf eine Lücke in der Gesetzgebung, die sich wahrlich seltsam genug ansieht gegenüber allem dem seltsamen Gerede über die dermalige Vollkommenheit der Staatseinrichtungen! – Traurige Vollkommenheit, die es zuläßt, daß ein Staatsangehöriger am hellen Tage und bei nüchternen Sinnen moralisch todt erklärt werde, ohne daß die Gesetze, ohne daß Richter beordert werden, sich an seine Seite zu verfügen.

„Man nimmt Anstand, den Menschen für dispositionsunfähig, für einen Verschwender, einen Bankerottirer zu erklären, ohne ihn vorher vor Gericht gestellt und gehört zu haben; man weiß den Richter wohl zu finden, wenn es darauf ankommt, seine persönliche Freiheit zu beschränken, und wehe demjenigen, der sie ihm ohne die richterliche Ermächtigung auch nur auf einige Stunden entzöge. Aber denselben bürgerlich und moralisch todt machen, ihn in einem Irrenhause lebendig begraben, das kann man alle Tage und nach Belieben, dazu bedarf es keines Richters und keiner Ermächtigung, dazu tritt das richterliche Befinden noch immer zeitig genug ein, wenn das Attentat bereits vollbracht ist, wenn er einseitig bereits für irrsinnig erklärt und begraben ist. Dazu ist nichts weiter nöthig, als ein Medicus und eine unendlich kostspielige Pensionsanstalt, „Irrenhaus“ genannt, dessen Inhaber, wie sich von selbst versteht, in der Regel den Titel eines „Irrenarztes“ führt, kurz, diese ganze, moralisch und bürgerlich und wie oft auch physisch vernichtende Procedur kann so recht privatim, nach Umständen sogar privatissime abgemacht werden, ohne daß man dem öffentlichen Rechte, der öffentlichen Ordnung mehr schuldig wäre, als die Meldung des eingetretenen Wohnungswechsels: – „N. N. ist wegen Blödsinnes von hier in die Irrenanstalt versetzt worden.“ Wie oft schließt in dieser nichtssagenden Formel das furchtbarste Drama ab, in dessen Mittelpunkt eine menschliche Seele verloren ist! Der nach der That angerufene Richter gleicht in allen solchen Fällen einem Manne, dem eine Arbeit übertragen wurde, zu deren Vollendung er zweier Arme und zweier Hände bedürfte und der doch nur über einen Arm verfügt. Der Richter soll in diesem Falle einen Menschen aus dem Abgrunde emporheben, in den er gestürzt wurde – und auch mit dem ernstlichsten Willen ist er dazu mit dem einen Arme nicht im Stande. Denn man hat an den Hinabgestürzten ein Gewicht gehängt, und dieses Gewicht heißt: vorweg abgegebenes Sachverständigen-Urtheil.

„Mit dieser vorweg gegebenen Thatsache ist ein Cirkel geschlagen, aus dem, wie die Gesetze zur Zeit noch geartet sind, auch die gewissenhafteste richterliche Anstrengung nur sehr selten herauszukommen vermag. Das ganze Unglück liegt eben darin, daß der Richter, wie es sich in der Praxis gestaltet hat, weniger gerufen wird, um zu erforschen und zu entscheiden, ob der Eingesperrte wirklich wahnsinnig, wirklich einsperrungsbedürftig sei, sondern weit mehr, um nach Beseitigung einiger gesetzlichen Formen anzuordnen, daß dem Eingesperrten ein Vormund oder Curator bestellt werde. Die Thatsache, daß der Eingesperrte wahnsinnig sei, wird bei diesem Interdictions-Verfahren bereits halb und halb zugegeben. Sollen aber Verbrechen verhütet, soll die Unbilde unmöglich gemacht werden, so ist es ziemlich unbedeutend, daß der Richter fragen darf: soll der Eingesperrte eingesperrt bleiben? Denn das heißt in gar vielen Fällen nichts Anderes, als durch die heimliche Oeffnung zur Sache steigen, die eben von der Gewalt und Arglist mit so glücklichem Geschick gemacht wurde, und ein Mehreres bedeutet die richterliche Frage nicht: ist der Eingesperrte wirklich wahnsinnig? In allen diesen und ähnlichen Fällen kommt es vielmehr und vor allen Dingen darauf an, daß gefragt werde: wie und mit welchem Rechte ist dieser Eingesperrte eingesperrt worden? wie ist es dabei zugegangen? welcher Mittel hat man sich dabei bedient? wer sind diejenigen, welche dies verübten, die deren Ausführung unterstützten, dieselbe guthießen, und von welchen Beweggründen wurden die Einen und die Anderen dabei geleitet? Sollen Verbrechen verhütet, soll die Unversehrbarkeit des öffentlichen Rechtes, an das auch die am schwächsten erleuchtete Menschenseele, an das selbst der Halbblödsinnige aus tiefstem Herzensdrange noch mit ganzer, voller Zuversicht zu denken wagt, woran er sich klammert, worauf er sich zu verlassen den Muth hat, soll dieser heilige Glaube, daß Recht und Gerechtigkeit im Staate walten, nicht getrübt und verdunkelt werden: so ist es die Pflicht zumal derer, welche über das Ansehen des Gesetzes wachen, daß sie überall und in allen Fällen da einschreiten, wo die öffentliche Stimme oder andere ungewöhnliche Merkmale dafür sprechen, daß eine Gewaltthat verübt worden sei.

„Es ist nicht unsere Absicht, von dem, was wir über die Lage und das persönliche Verhalten des Greises ungesucht und unausgesetzt erfahren, für jetzt Gebrauch zu machen; aber vollkommen geeignet ist es, ein Menschenherz bis auf’s Tiefste zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 737. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_737.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)