Seite:Die Gartenlaube (1858) 736.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

die evangelische Kirche aufgenommen sein würde, nachdem sie zuvor durch die Taufe in die christliche Gemeinschaft im weitesten Sinne Aufnahme gefunden. Ihre Fortschritte in Erkenntniß und Aufnahme der evangelischen Lehre waren so erfreuliche, und ihr Geistlicher war auch hier so sehr mit ihr zufrieden, daß ihre Confirmation bereits für den Schluß des ersten Jahres ihres genossenen Confirmationsunterrichts – also für Mitte August 1858 – in Aussicht gestellt werden konnte. Allein es sollte ganz anders kommen.

Es kam nämlich zwischen Carolinen und ihren dermaligen Kosthaltern zu so ernstlichen Mißhelligkeiten, daß ein längeres Verbleiben bei ihnen für beide Theile unthunlich erschien. Besonders war es der nähere und vertraute Umgang mit mehreren Personen außer dem Hause (jedoch kein Umgang unerlaubter Art mit Personen anderen Geschlechts), von dem man eben nicht den besten Einfluß auf sie erwarten durfte und den Caroline, trotz des Verbotes sowohl des Hausherrn als ihres Lehrers, dennoch fortunterhielt, welcher störend auf ihr gutes Einvernehmen mit Ersterem und dessen Frau hinwirkte. Daß dieser ihr einst im Unmuthe äußerte: „sie könne unmöglich von hoher Abkunft sein, sie sei eine Abenteurerin“, hat sie ihm, wie natürlich, sehr übel aufgenommen und nie vergessen können.

Nachdem es aber eines Tages zu ernstlichen Conflicten zwischen ihr und ihren dermaligen Kosthaltern gekommen war, fand sich Herr Eck veranlaßt, auch diesem unhaltbaren Zustande ein Ende zu machen und Caroline bis auf Weiteres, mit Erlaubniß der städtischen Behörde, in sein eigenes Haus aufzunehmen, und zwar auch hauptsächlich in der Absicht, sich einmal aus eigner Erfahrung und Anschauung davon zu überzeugen, ob denn die Aufführung Carolinens wirklich der Art sei, daß sie zu fortwährenden Klagen gegründeten Anlaß gäbe – ein Schritt, zu dem er sich auch ganz besonders jenem Herrn in Böhmen gegenüber moralisch verpflichtet fühlte, der Carolinen adoptiren wollte. Am 12. Juli 1858 nahm Eck seine Schülerin zu sich in die eigene Familie, und damit beginnt der letzte Act in dem Drama ihres hiesigen Lebens. Es war der Anfang vom Ende.

Eck fand nur zu sehr, daß manche der über Carolinen geführten Klagen allerdings begründet war, wenn schon er sich immer noch geneigt zeigte, manchen ihrer Fehler aus den eigenthümlichen und vielfach traurigen Schicksalen ihres Lebens herzuleiten und demgemäß zu entschuldigen. Auch war sie ihm gegenüber noch ganz besonders auf der Hut, wohl wissend, daß mit ihm ihr letzter Rückhalt stand und fiel, und hatte sich auch bis dahin, was besonders zu berücksichtigen ist, von ihm noch nie auf einer Unwahrheit ertappen lassen.

Inzwischen hatte der Gemeinderath Carolinen zu Ende Juni 1858 das Heimathsrecht der Stadt Offenbach, wie schon Anfangs in Aussicht gestellt, zuerkannt, und es nahte nunmehr die Zeit ihrer Taufe und Confirmation heran. In ersterer wünschte, sie den Namen ihres „Papa“ Eck zu empfangen, da dies jedoch aus verschiedenen Gründen unthunlich erschien, so wurde beschlossen, vor den Namen „Eck“ noch einfach das „B“ zu setzen, womit ihr mehrerwähntes Halstuch gezeichnet war („Caroline B“), und sie auf den Namen „Caroline Beck“ zu taufen. Diese Namensannahme wurde dem Ministerium, in dem man sich ebenfalls für den Findling lebhaft interessirte, zur Gutheißung vorgelegt, der man denn auch täglich entgegensah. Inzwischen hatte sie ihre Frankfurter Gönnerin in einem rührenden, echt kindlichen Briefe eingeladen, ihr bei der Taufe Pathin zu stehen; der uns, wie alle übrigen, im Original vorliegende Brief ist kalligraphisch sehr schön, aber in etwas großen, schulmäßigen Zügen geschrieben.

Die Dame hatte auch bereitwilligst die Pathenstelle angenommen, und sie mit einem schönen Confirmationskleide und sechs feinen Hemden beschenkt.

Da Herr Eck sich indeß nicht verhehlen konnte, daß Carolinens Betragen doch nicht der Art sei, sie schon jetzt mit gutem Gewissen in ihre neue Heimath nach Böhmen entlassen zu können, so beschloß er, sie noch bis zum nächsten Frühjahr unter seiner speciellen Aufsicht und Zucht im eignen Hause zu behalten, und wollte eben in diesem Sinne dorthin schreiben, als bei ihm (Mitte Juli) ein Brief von da eintraf, worin ihm Carolinens zukünftiger Adoptator anzeigte, daß ein plötzlicher Todesfall in seiner Verwandtschaft es ihm leider für’s Erste unmöglich mache, sein Vorhaben bezüglich ihrer auszuführen, indem jetzt seine Hülfe nach anderer Seite hin nothwendig werde. Aufgeschoben sei indeß nicht aufgehoben, und er sei bereit, Caroline, wenn sie ferner noch den Wunsch hege, zu ihm nach Böhmen zu kommen, und ihre Existenz für die Zukunft in Offenbach nicht genügend gesichert sei, schon allenfalls im nächsten Jahre zu sich nehmen; inzwischen bleibe es Caroline unbenommen, sich jederzeit mit billigen Anliegen und Wünschen selbst an ihn zu wenden, in welchem Falle er immer geneigt sein würde, ihr mit der wärmsten Theilnahme die Freundeshand zu bieten.

Dieser Aufschub kam Herrn Eck ganz erwünscht. Caroline selbst nahm ihn mit jener stumpfen Ruhe und anscheinenden Gleichmüthigkeit auf, die ihr eigen war, und schien weder sehr betrübt, noch sehr erfreut darüber. Ob und wie die Uebersiedlung nach Böhmen überhaupt in ihre Pläne paßte oder nicht, was in Bezug hierauf im Grunde ihrer Seele eigentlich vorging, – wer wollte es sagen?!…

Wenige Tage darauf erfolgte die unerwartete Katastrophe.

Es war am Sonntag den 25. Juli, daß Herr Eck seine Schülerin auf einer eclatanten Lüge betraf, für seine Ueberzeugung das erste Mal. Sie leugnete ihm auf’s Bestimmteste die Unterredung mit einer Person ab, von der er selbst aus der Ferne ungesehen Zeuge gewesen war, und sie leugnete hartnäckig.

Man kann sich leicht denken, was bei dieser Entdeckung Alles in Eck’s Seele vorging! Mit dieser Einen Lüge schien der ganze kühne Aufbau seiner Hoffnungen und seiner Ueberzeugungen in Betreff Carolinens plötzlich wie ein leichtes Kartenhaus in Trümmer zu sinken – ein Bau, an dem er fast vier Jahre hindurch mit liebevoller, uneigennütziger Hingebung gearbeitet, für dessen feste Begründung er öffentlich mit seinem Namen in die Schranken getreten war!

Diese jähe Enttäuschung lieh Herrn Eck Worte der äußersten sittlichen Entrüstung gegenüber der falschen Betrügerin. Auf einer so frechen Lüge ertappt, äußerte er ihr, vermöge er jetzt auch keinen Augenblick an ihre sonstige Wahrhaftigkeit zu glauben. Ihre ganze Geschichte, Alles, was er in seiner Schrift veröffentlicht, müsse er jetzt für Lüge erkennen. Sie sei nun entlarvt, ihre Rolle zu Ende gespielt. Er werde ihr ferner keinen Unterricht mehr ertheilen, auch seine Hand ganz von ihr abziehen.

Caroline stand zerknirscht und niedergeschmettert. Sie versuchte keine Entschuldigung und ging später auf ihr Zimmer. Nach einiger Zeit kam sie zurück, setzte sich auf das Sopha, legte den Kopf auf die Seitenlehne, verbarg ihr Gesicht und schien zu weinen. Auf ihrem Zimmer hatte sie nachstehende Worte mit Bleistift niedergeschrieben und das Blatt, anscheinend auch von Thränen befeuchtet, offenbar in großer Aufregung geschrieben, wie die Schriftzüge verrathen, ihrem Lehrer übergeben; es ist die letzte schriftliche Aeußerung, welche wir von ihr besitzen:

 „Lieber Papa
„thue wie ich nach mein vergehen vertiend habe ich habe keine hoffnung bei der Mama ihre Liebe und verthraun (Vertrauen) zu gewinnen habt auch weiter kein mitleit mit mir verßtoßt mich es mach (mag) aus mir wärn (werden) was da will denn eine Bitte wache (wage) ich nicht zu thun“ (Ohne Datum und Unterschrift.)

Herr Eck, bei dem sich inzwischen die erste Aufwallung gelegt, war doch nicht der Mann dazu, seinen ihm so sehr an’s Herz gewachsenen Pflegling um der ersten Lüge willen gleich fallen zu lassen. Er sah ihre äußerste Zerknirschung, er las jene Zeilen, in denen sie sich ihm gleichsam auf Gnade und Ungnade überlieferte; zu alle dem kam auch noch seine schon früher mitgetheilte Besorgniß, sie möchte sich ein Leid anthun und ihr Leben vielleicht durch Selbstmord enden. Er hielt es also für Pflicht, noch einmal am Abend desselben Tages Worte der Beruhigung und ernsten Ermahnung an Caroline zu richten und ihr zu sagen, daß noch Alles gut werden könne, wenn sie ernstlich Besserung gelobe. Anscheinend etwas beruhigter wurde sie darauf von ihm zur Ruhe entlassen.

In später Nachtstunde noch hörte sie Herr Eck die Treppen herabkommen und versuchen, die Hausthüre zu öffnen; sie schien unwillig, daß sie dieselbe fest verschlossen fand.

Am nächsten Morgen (26. Juli 1858) erschien sie wie gewöhnlich beim Frühstück der Familie; man bemerkte nichts Ungewöhnliches an ihr, sie war still und in sich gekehrt, wie sie das oft war. Sie strickte. Gegen halb zehn Uhr legte sie den Strickstrumpf bei Seite und verließ das Zimmer, um nicht mehr zurückzukehren. Als ihr Ausbleiben nach einiger Zeit auffiel und man im Hause nach ihr suchte, war sie nirgends aufzufinden. Sie war und blieb verschwunden.

(Schluß folgt.)




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_736.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)