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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

die Wuth des Bullenbeißers nur verdoppelt; er blieb fast unempfindlich bei diesem neuen Angriffe, zermalmte die alte Ratte zwischen seinen furchtbaren Kinnbacken und entledigte sich seiner Feinde wieder, indem er wüthend den Kopf schüttelte. Nun wollte er eben eine von den andern beiden packen, als dieselbe, die Bewegung des Hundes beobachtend, ihm plötzlich auf den Rücken sprang, denselben als Sprungbret benutzte und sich von da auf die Barriere hinaufschwang, die den Lords als Stütze diente, so daß dieselben sich erschrocken zurückbeugten. Von diesem Platze aus prüfte das keuchende Thier, wie ein Beobachter, was sich ereignen möchte, und mußte unmittelbar darauf mit ansehen, wie die Knochen seines Waffenbruders zermalmt wurden.

Lord S. bewegte unwillkürlich seine Hand schützend nach der beobachtenden Ratte, als hatte er den verzweifelten Entschluß des armen Thieres errathen; aber dieses Gefühl der Theilnahme war von keinem Nutzen: der letzte Märtyrer sprang schnell hinab auf den Sandplatz; er wollte ohne Zweifel diejenigen nicht überleben, die ihm theuer gewesen waren.

Die Folge dieser Thatsache war ein allgemeiner Ausruf der Verwunderung. Lord S. streckte seine Arme nach dem Circus hinab, befahl dem Director, die todten Körper der drei Ratten aufzuheben, um sie ausstopfen zu lassen und sie zum Andenken an ihre Tapferkeit aufzubewahren. Alsdann gab der edle Engländer einem Diener einen Wink und schickte ihn mit einem Auftrage weg. Sowie sich derselbe entfernte, bat er die Zuschauer, sie möchten noch einige Minuten verweilen, wenn sie wünschten, daß das Schauspiel einen allgemein befriedigenden Schluß gewähre. Bald darauf kam der Diener zurück und brachte einen kräftigen Bullenbeißer mit, den man zu dem Rattentödter hineinließ. Der Kampf, der sich jetzt zwischen den beiden Hunden entspann, war nicht von langer Dauer; nach wenigen dumpfen Gurgeltönen lag das Thier auf dem Fußboden ausgestreckt und die Ratten waren gerächt.

Der Leichnam des kleinen Hundes durfte sich mit seinen Schlachtopfern in die Ehre theilen, ausgestopft zu werden, und der Künstler, der mit dieser Arbeit betraut wurde, gruppirte diese Thiere so, daß ihre Stellung an das vorhergegangene Ereigniß erinnerte. Diese Gruppe hat aber natürlich in der Gallerie von Natur- und Kunstgegenständen, deren Besitzer Lord S. ist, einen geeigneten Platz gefunden. –




Ein aufgelöstes Räthsel.
Von E. Pirazzi in Offenbach.
(Fortsetzung.)


Der Ort der Aussetzung. – Besuche bei Carolinen. – Ihr Betragen und ihre Aeußerungen. – Ihre Flucht aus dem K.’schen Hause. – Der Artikel in der Gartenlaube und dessen Folgen. – Caroline kommt in das Eck’sche Haus. – Die Lüge und die Katastrophe. – Die Flucht.

Dieser Versuch, den Wald und das Dorf ausfindig zu machen, wo sie nach ihrer Aussetzung durch Bertha hingelangt war, ist auch, und zwar bereits im März 1856, mit Carolinen unter Anführung des Herrn Eck und in Begleitung seiner Tochter und eines Gensd’armerie-Brigadiers gemacht worden. Auch er trug nur dazu bei, Carolinens Wahrhaftigkeit auf’s Neue und Vollständigste zu beglaubigen; in Bezug auf die Wiedererlangung des ihr auf ihrer früheren Irrfahrt angeblich entwendeten Medaillons mit dem Bildniß ihrer Mutter (eigentlich Hauptzweck der ganzen Inspectionsreise) ergab sich indeß trotz der eifrigsten Nachforschungen kein Resultat. Aber es gelang, die Mehrzahl der Orte festzustellen, durch die sie damals gekommen war, und wo man sich zum Theil der seltsamen, kein Deutsch verstehenden Person noch erinnerte. Als jener Ort, bei dem Caroline „ein groß Wasser“ auf einer Brücke passirt hatte, ergab sich unzweifelhaft Aschaffenburg am Main; von da war ihr Zug in’s Hessische hinübergegangen, jenseits Aschaffenburg aber verlor sich alle Spur. Auch fand sich nach Carolinens Beschreibung sogar der Ort wieder, worin sie in einem einzelnstehenden Hause übernachtet haben und bestohlen worden sein wollte: es war in dem bairischen Dorfe Stockstadt a. M. Jenes Haus war damals auch wirklich, wie sich ergab, von Weibspersonen nicht des besten Rufes, und ziemlich mit Carolinens Beschreibung stimmend, bewohnt gewesen, diese aber leider jetzt theils gestorben, theils fortgezogen.

Neugierde und Interesse trieb viele Personen nach Offenbach, die Caroline zu sehen begehrten. Diese fanden sich jedoch von ihrer äußern Erscheinung meist sehr enttäuscht und abgestoßen, weil sie sich vielleicht von dem Mädchen mit der romantischen Geschichte auch in dieser Hinsicht etwas Besonderes erwartet hatten. Indeß trugen ihre Züge weder den Stempel adliger Geburt noch solcher Gesinnung, sie waren scharf und grob geschnitten, der Mund groß, die Figur untersetzt und von schlechter Haltung, obwohl sie das Köpfchen gelegentlich recht hoch zu tragen wußte. Ihre gebogene Nase, wie sie bei uns allerdings selten vorkommt, schien uns ein sprechendes Zeichen ihrer ungarischen Abkunft, und ihr zeitweilig hervortretender starrer Eigensinn war von Kennern ganz speciell für „echt ungarisch“ erklärt, während wir darin noch obendrein die, so zu sagen, unbewußte Empörung des edlen Blutes in ihr gegen den Druck der sie umgebenden, ihrer unwürdigen Verhältnisse zu sehen liebten.

Sie mochte es durchaus nicht leiden, sich von Fremden besucht zu sehen, vielleicht weil sie fürchtete, von einem derselben einmal erkannt zu werden, und that dann auch alles Mögliche, die Besucher bald wieder zu verscheuchen. Ihre Erscheinung war dann so uninteressant und unliebenswürdig wie möglich. Sie stand da, die Augen niedergeschlagen, mit einer wahren Armensünder- und Idiotenmiene, spielte mit den Händen verlegen an den Säumen ihrer Schürze, weinte vielleicht stille in sich hinein (über Thränen hatte sie überhaupt jeder Zeit mit voller Freiheit zu verfügen), gab auf die eindringlichsten Fragen im besten Fall eine leise, flüsternde Antwort, kurz, erschien von einer fast blödsinnigen Blödigkeit, Menschenscheu und Stupidität, mit keinem Zuge die ihr innewohnende Intelligenz verrathend.

Indeß traten ihre häuslichen Untugenden immer schärfer hervor. Eigensinn, der sich oft bis zum Starrsinn steigerte; übertriebene Empfindlichkeit, Launenhaftigkeit, Unempfänglichkeit für empfangene Wohlthaten, Unanstelligkeit, ein gewisser verschrobener Dünkel, endlich, wir dürfen es nicht verschweigen, eine immer entschiedener hervortretende Neigung zur Heuchelei und zur Lüge. Ebensowenig aber darf verschwiegen werden, daß sie im Punkte des Eigenthums durchaus ehrlich war, nie auch nur das Geringste veruntreute, sowie, daß sie stets einen züchtigen Wandel führte.

Ihr Lehrer war zwar keineswegs blind für gewisse ausgesprochene Unarten und Untugenden seiner Schülerin, allein in seinem natürlichen und nur zu erklärlichen Wohlwollen gegen sie immer geneigt, sie aus der Natur der Verhältnisse und, wie gesagt, theilweise unrichtiger Behandlung herzuleiten, folglich zu entschuldigen. Auch hatte sie eine treffliche Art, allen gegen sie bei Herrn Eck sich vorbereitenden Klagen bei ihm damit zuvorzukommen, daß sie eine betrübte Miene aufsteckte, auf sein dringendes Befragen nach der Ursache derselben dann meist in Thränen und zuletzt gewöhnlich in die Worte ausbrach: „Die Menschen seien so schlecht, verleumdeten sie, weil sie sie nicht verständen, legten ihr Dinge zur Last, an die ihr Herz nicht denke“ – u. s. w., und zuletzt hatte Herr Eck alle Mühe, sie zu beruhigen. Vor allen Dingen glaubte er nicht an ihre angebliche Neigung zur Unwahrheit! Von ihm selbst hatte die Kluge sich wohlweislich nie auf einer solchen betreten lassen, und was ihm von anderer Seite darüber geklagt wurde, stellte sich ihm später immer als Mißverständniß heraus. Man klagte ferner über ihr finsteres, mürrisches Wesen, über ihre Unliebenswürdigkeit! Aber war, wenn sie in Sehnsucht ihrer verlorenen Mutter gedachte (und dies that sie ja so oft) eine heitere Stimmung möglich?

Zur schärferen Charakterisirung ihres Herrn Eck gegenüber so meisterhaft befolgten Umgarnungssystems mögen hier wenige interessante Auszüge aus dem über sie geführten Tagebuche des Ersteren folgen.

2. April 1856. Heute erklärte ich im Schulreligionsunterricht die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern. Caroline sagte mir nach der Stunde: „O, wenn ich bei meinen Eltern wäre, wie gerne würde ich ihnen so danken, wie Sie heute in der Schule gesagt haben!“

23. April. Eine Dienstmagd sagte Carolinen dieser Tage, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_734.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)