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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

„In meinem Locale wenigstens nicht,“ versetzte dieser. „Aber das können Sie ja sehr leicht erfahren beim Wasserschout oder beim russischen Consul. Dort wird man Ihnen auch den Bestimmungsort des „Pawlowsk“ nennen, als er vor drei Jahren den hiesigen Hafen verließ.“

Wir dankten Herrn Colhorn für seine Zuvorkommenheit, ich kaufte ein paar seidene Tücher, eine goldgestickte Mütze, um mein der hübschen Leonore gegebenes Wort zu halten, ging dann noch in den Laden eines Goldschmiedes, um einen blitzenden Ring beizufügen, und befolgte hierauf in Henricksen’s Begleitung die Rathschläge des Kaufmannes.

Am nächsten Morgen schon hatten wir ermittelt, daß der russische Schooner „Pawlowsk“ damals mit einer Ladung Colonialwaaren, nach Reval bestimmt, die Anker gelichtet hatte. Es war dies am Tage der Verlobung Henricksen’s mit Marie Anne geschehen. Wir brachten außerdem noch in Erfahrung, daß der genannte Schooner wegen ungünstigen Windes ein paar Meilen vom Lande ab nochmals Anker geworfen hatte und der erste Steuermann Torkel Veen bis in die Nacht hinein am Lande gewesen sei. Der „Pawlowsk“ hatte seitdem nicht mehr diese Hafenstadt besucht.

Diese Ermittelungen vermochten jedoch Henricksen nicht zu beruhigen. Marie Anne’s Schicksal, die er bisher für todt gehalten, folterte ihn unaufhörlich. Daß das junge Mädchen eine kurze Zeit geschwankt und ihr Herz befragt hatte, konnte er ihr nicht zum Vorwurfe machen. Die Entscheidung war ja schließlich zu seinen Gunsten ausgefallen. Aber die Verlockung der Arglosen, ihre wahrscheinlich gewaltsame Entführung schmerzte ihn tief. War Veen wirklich der Räuber seiner Braut, so mußte dieser Mann, ein Esthe von Geburt, wie uns weitere Erkundigungen sagten, einen leidenschaftlichen, zu roher Gewalt sich hinneigenden Charakter besitzen. Im Geiste sah Henricksen seine Braut unglücklich, gemißhandelt! Und wer konnte wissen, ob sie den Qualen eines allem Anscheine nach auch höchst eifersüchtigen Mannes nicht längst erlegen war!

So trüben Gedanken lange nachzuhängen, blieb meinem Freunde zum Glück wenig Zeit übrig. Unsere Lage verlangte, daß wir uns möglichst bald wieder nach einer Heuer umsahen, doch nahmen wir uns gegenseitig das Versprechen ab, diesmal nur auf nach dem Norden bestimmten Schiffen Dienste zu nehmen. Daß wir ein russisches Fahrzeug unter allen Umständen jedem andern vorziehen würden, verstand sich von selbst.

Leider lag gerade kein einziges russisches Schiff im Hafen. Um nun wo möglich zum Ziele zu gelangen, reiste Henricksen sofort ab nach einer andern, nicht allzuweit entfernten Hafenstadt, die in der Regel häufig von russischen Kauffahrern besucht ward. Er hatte Auftrag, für mich mit zu handeln, wenn die Verhältnisse es zulassen sollten. Ich selbst mußte, ehe ich persönlich für mein weiteres Fortkommen sorgte, Leonore noch einmal sehen. Die Augen des muntern Mädchens hatten mich gar so freundlich angelächelt! Und dann wartete sie ja auf Rückgabe des entliehenen Tuches und – so hoffte ich – auch wohl auf die verheißenen glänzenden Geschenke, die ich ihr freigebig versprochen.

Wir sahen uns wieder. Sie nahm aufrichtigen Antheil an dem, was ich ihr über den Erfolg unserer Erkundigungen mittheilen konnte, und als ich von ihr ging, wehrte sie mir nicht, daß ich den mitgebrachten Goldreif an ihren Finger steckte. Ich verließ Leonore mit der Gewißheit im Herzen, sie werde sich als meine still Verlobte betrachten.

Inzwischen waren auch die Bemühungen Henricksen’s von gutem Glück begünstigt. Der Capitain der Brigg „Olga“ von Kronstadt, ein Deutscher von Geburt, suchte gerade noch einige seegewandte Matrosen, um sein übrigens größtentheils finnisches Schiffsvolk leichter regieren zu können. Der wackere Mann heuerte uns Beide, mich als Vollmatrose, Henricksen, der schon vor ein paar Jahren sein Steuermanns-Examen gemacht hatte, als solcher aber bisher noch kein Unterkommen finden konnte, als zweiten Steuermann. Die Bestimmung der „Olga“ war Reval, und da sie ihre Ladung zum größten Theile bereits eingenommen hatte, brauchten wir nur noch guten Wind abzuwarten, um auszuclariren. Letzteres geschah nach Verlauf einer Woche.

Diese zweite Reise traten ich und Henricksen mit sehr gemischten Empfindungen an. Mein Freund sprach sich gar nicht über seine Pläne aus, so oft ich ihn aber auszuforschen suchte, las ich in dem unheimlichen Funkeln seiner Augen, daß sein Herz gegen Torkel Veen von Haß überlaufe. Traf er mit dem Gesuchten zusammen und fand er Marie Anne bei ihm, dann gab es zwischen Beiden einen Kampf auf Leben und Tod. Gerade diesem Aeußersten vorzubeugen, war mein Vorsatz, und ich ging Tag und Nacht mit mir zu Rathe, wie ich wohl am besten eine verbrecherische Handlung möchte verhindern können.

Gegen den Capitain der „Olga“ beobachteten wir Beide tiefes Schweigen. Er hätte Verdacht schöpfen und unser Vorhaben, wenn auch nur aus Klugheitsrücksichten, in irgend einer Weise durchkreuzen und unausführbar machen können. Nur ganz nebenbei und ohne daß es ihm auffallen konnte, erkundigten wir uns nach den Rhedern Reval’s, nach der Zahl der Schiffe, die sie besaßen, und nach den Namen der vorzüglichsten derselben. Der „Pawlowsk“ war eins der ersten, das er uns nannte.

„Ist’s nicht ein Schooner?“ sagte Henricksen.

„Kennst Du ihn?“ fragte der Capitain.

„Hab’ ihn, glaub’ ich, ’mal gesehen,“ erwiderte Henricksen. „Sein Steuermann galt für einen ausbündig wilden Menschen.“

„War er auch,“ sagte der Capitain unwillig. „Hab’ mich fast zu Tode geärgert über den Bengel, als ich ihn ein halbes Jahr lang als Junge an Bord hatte. Sein Kopf ist so hart, wie sein strohernes Haar, und was er sich einmal vornimmt, das führt er auch aus, und sollten Galgen und Rad gleich daneben stehen. Den jüngsten Mat stürzte er in wilder Wuth über Bord, blos weil er in der Eile in seine Schuhe gefahren war. Der arme Mensch ward zum Glück gerettet, aber den Torkel Veen behielt ich nicht länger an Bord.“

„Ich hörte seine große Entschlossenheit rühmen,“ warf ich ein, obwohl das eine reine Erfindung war, denn ich hatte nie von Jemand auch nur ein Wort über den Esthen vernommen.

„Wäre er nicht so unbändig, so eigenwillig, so jähzornig und deshalb so überaus schwer zu behandeln, kein Seemann könnte sich einen tüchtigeren Steuermann in gefahrvollen Stunden wünschen.“

„Fährt er noch auf dem „Pawlowsk“?“ fragte Henricksen.

„Bestimmt weiß ich es nicht,“ erwiderte der Capitain. „Es gab immer Reibungen, auch munkelte man vor Jahr und Tag etwas von einer Geschichte, die am Bord vorgekommen sein sollte und die beinahe zu einer criminellen Untersuchung geführt hätte. Ich hab’ mich absichtlich nicht darum gekümmert, um nicht mit den Gerichten, wenn auch nur als Zeuge, in Berührung zu kommen. Anderen mochte es wohl eben so gehen, und so kam nichts an den Tag. Den Torkel Veen aber soll man damals gleich einem Rasenden auf dem Schiffe wie am Lande haben herumlaufen sehen, worauf er verschwand.“

Näheres über den Esthen war nicht zu erfahren, auch durften wir nicht weiter in den Capitain der „Olga“ dringen, wenn wir durch unsere Fragen nicht Verdacht erregen wollten.

Die Reise verlief, eine höchst unbedeutende Havarie abgerechnet, die wir auf der Höhe von Bornholm erlitten, ganz glücklich. Wir hatten mit keinen widrigen Winden zu kämpfen, überhaupt keinerlei Unfälle, wie sie Seefahrern so häufig zustoßen. Erst in unmittelbarer Nähe von Reval begegnete uns etwas ganz Ungewöhnliches.

Windstilles Wetter nöthigte den Capitain, vor Anker zu gehen, um in dem schwierigen Fahrwasser nicht mit einem entgegenkommenden Schiffe bei der dicken Luft, die über dem Meere lagerte, in Collision zu gerathen. Wir hatten die üblichen Laternen aufgehängt, die vorschriftsmäßigen Wachen beschritten das Deck. Da vernahmen wir plötzlich ein unerklärliches Geräusch vom Lande her. Es klang wie dumpfes Rauschen in der Ferne rasenden Sturmes, dann wieder Gezisch heißen, aus enger Oeffnung strömenden Dampfes. Dazwischen ließ sich Geschrei, Jammer, Geheul hören, und zwar so laut, so angstvoll, so andauernd, daß uns Allen grauste. Sonst blieb es ringsum todtenstill. Die Nebelluft stand fest wie eine graue Mauer, das Meer lag ruhig vor uns, wir befanden uns in der absolutesten Einsamkeit. So verging etwa eine halbe Stunde. Dann ward das Rauschen, Zischen, Heulen und Winseln schwächer und hörte nach einiger Zeit ganz auf.

Während der Dauer dieser unerklärbaren Töne hatte nur Einer oder der Andere ein paar abgebrochene Worte gesprochen, um sein Erstaunen auszudrücken. Henricksen und ich, wir Beide begnügten uns mit schweigendem Horchen. Uns waren Meer, Land und Leute völlig unbekannt, wir konnten also nicht eingeweiht sein in die Geheimnisse der Küstengegenden, in denen ja vielleicht seltsame Naturstimmen

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