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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

criminalistischen Knoten selbst zu einer befriedigenden Lösung zu bringen, unsere ganze Anerkennung.

Nach dem Mitgetheilten wird man den Eindruck ermessen können, den die Botschaft von Neustadt nah und weit hervorrief! Sie fiel zuerst, wie ein in’s Wasser geworfener Stein, plätschernd und aufspritzend in das stehende Gewässer der städtischen Unterhaltung, zog ihre Kreise immer weiter und weiter, und hatte im Handumdrehen abermals die deutsche Presse durchlaufen.

Aber es gibt eben Fälle, und der vorliegende gehört zu diesen, wo mehr Scharfsinn dazu gehört zu glauben als zu zweifeln, weil der Glaube in solchen Fällen oft auf scharfsinnig combinirten Motiven ruht (vergl. die Eck’sche Schrift), der Zweifel aber nicht selten auf oberflächlich absprechenden Urtheilen; und dies ist, ganz beiläufig bemerkt, auch der Grund, aus dem uns die Irrthümer großer oder geistreicher Menschen zuweilen interessanter erscheinen, als die aus dem nüchternen, alltäglichen „gesunden Menschenverstand“ entspringenden Wahrheiten. Gleich im Anfang durchblickt scheint die Vielgewandte nur der damalige hiesige Polizeicommissär zu haben, der in seinem ersten Berichte an die Oberbehörde von ihr sagt: sie sei sicher eine Betrügerin und verstehe offenbar ganz gut deutsch, denn sie wechsle die Farbe, wenn man in ihrer Gegenwart Uebles von ihr rede – eine Thatsache, die Ihrem Referenten freilich erst jetzt zu Ohren kam, wo man jenen nunmehr zu Ehren gekommenen Bericht nachträglich wieder aus bestäubten Actenbündeln hervorsuchte.

Ist es immerhin ein etwas beschämendes Bekenntniß für uns Alle, jahrelang von einer Betrügerin genarrt worden zu sein, so ist diese Thatsache doch sicher am Niederschlagendsten für Herrn Eck, den wackern Lehrer und väterlichen Freund unsrer Abenteurerin, der sich mit unermüdlichem, rastlosem Eifer und uneigennützigster Hingebung seit der Zeit, da sie zu ihrer Heranbildung seinen Händen war übergeben worden, unablässig bestrebte, Carolinen zu ihrem gekränkten Rechte zu verhelfen und ihr, als theilweisen Ersatz für eine verlorne Jugend, mindestens eine erträgliche Gegenwart und Zukunft zu bereiten. Freilich sind die Rathsherrn auch hier klüger vom Rathhaus zurückgekommen, als sie hinaufgegangen; Herrn Eck’s That aber bleibt für alle Fälle gleich anerkennenswerth.

Hatte sich mit der Botschaft vom 9. August das große Räthsel ihres Lebens und ihrer Vergangenheit zum weitaus wichtigsten Theile gelöst, so eröffnete uns diese unerwartete Wendung der Dinge doch gleichzeitig auch wieder eine ganze Reihe neuer Räthselfragen, deren Lösung wir damals mit leichterklärlicher Spannung entgegensahen. Von diesen später.

Schreiten wir jetzt zunächst zur Geschichte von Carolinens Offenbacher Aufenthalte.




II.

Obgleich der frühere hiesige Polizeicommissär der unbekannten Person von vorn herein mißtraute, so hatte der Stadtrath aus Humanitätsrücksichten dennoch am 19. April 1854 einstimmig beschlossen, für ihre fernere Unterhaltung und Ausbildung so lange Sorge tragen zu wollen, bis sie im Stande sein werde, sich selbstständig zu ernähren.

Der Stadtrath gründete diesen seinen Entschluß auf eine mehrmonatliche sehr genaue Beobachtung der Fremden. Dieselbe ergab, daß sie in geistiger, nicht aber in sittlicher Hinsicht gänzlich verwahrlost erschien, und dabei von einer ungewöhnlich großen, fast an Menschenscheu grenzenden Schüchternheit, von so zurückhaltendem, decentem und timidem Benehmen, wie es sonst bei Damen von der Landstraße nicht eben üblich ist. Ihre Reinlichkeit, und daß sie sich, außer in etwas Stricken, in allen handlichen und häuslichen Verrichtungen unerfahren stellte, ist bereits früher in d. Bl. erwähnt. Wenn sich einmal ein schüchternes Wort ihren Lippen entrang, so geschah dies in Lauten, die einer uns Allen fremden Sprache angehörten, welche später für die ungarische erkannt wurde. Sie liebte Stille und Einsamkeit, das viele und laute Sprechen schien ihr Unbehaglichkeit und Schmerzen im Kopfe zu verursachen, eine Eigenthümlichkeit, die sie noch bis ganz zuletzt beibehielt. Entweder sie hatte wirklich oder sie affectirte schwache Nerven; freilich muß auch die beständige Anspannung derselben im Dienste ihrer Rolle viel Angreifendes für sie gehabt haben. Ueber Kopfweh und Augenschwäche klagte sie oft; außerdem aber ist sie während der ganzen Zeit ihres Hierseins nie eigentlich krank gewesen. Bei jedem ungewöhnlichen, auch noch so unbedeutenden Geräusch erschrak sie heftig, einige Mal in dem Grade, daß sie beinahe in Zuckungen verfiel. Dabei war sie meist sehr betrübt; ein schweres Leid schien an ihrem Herzen zu zehren, doch statt der Worte hatte sie nur einen nie versiechenden Strom heißer Zähren. Da ihre Züge nichts weniger als schön und einnehmend, ihre Kleidung zudem bei ihrer Ankunft sehr unvortheilhaft (meist zu weit) war, so konnte ihre übrige Erscheinung nicht gerade dazu beitragen, das ungewöhnliche Interesse noch zu erhöhen, welches man im Sonstigen für sie trug. Doch hatte sie eine ziemlich weiße und feine Haut, und ihre Hände waren nicht eben plump zu nennen. Als wir sie in jenen Tagen, wo sie ihren Aufenthalt noch im hiesigen Bezirksgerichte hatte, dort besuchten, schieden wir von ihr mit der aufrichtigen Ueberzeugung, in ihr ein äußerst unglückliches und bemitleidenswerthes Geschöpf vor uns zu haben, das unsere volle Theilnahme verdiene.

Der hiesige Stadtrath glaubte nach alledem sich der Hülflosen annehmen und den erwähnten Beschluß fassen zu müssen. Nachdem diesen die obere Staatsbehörde genehmigt, erfolgte am 27. Novbr. 1854 ihre Uebersiedelung aus der Familie des Gefängnißaufsehers nach einem anderen Hause, wo sie bei einer Wittwe und deren unverheiratheter Tochter, welche ein Putzgeschäft trieb, Aufnahme fand. Zugleich wurde ihr ein Lehrer und Erzieher in der Person des Herrn Friedr. Eck von der Volksschule dahier ertheilt, welcher bis zu diesem Tage Caroline, obgleich sie schon ein Jahr lang die Unsere war, noch nie gesehen hatte und damals nicht ahnen mochte, welche Bedeutung sie für ihn noch gewinnen sollte.

Indem der Stadtrath Carolinen solchermaßen gegen entsprechende Vergütung in Kost und Wohnung gab, war es dabei sein Wille, daß dieselbe nicht als dienendes, sondern gewissermaßen als selbstständiges Glied des Hauses in der Familie Aufnahme finde, dabei aber allen häuslichen Arbeiten sich unterziehen solle, um in dieser Sphäre angemessene Ausbildung zu erlangen. Ihre Kost empfing sie am Familientische. Nächst ihrer geistigen Ausbildung war Herrn Eck auch gleichsam die moralische Vormundschaft über sie anheimgegeben

Von da ab wird Carolinens hiesige Geschichte gleichsam eine doppelte und wir werden sie von zwei Seiten zu betrachten haben: als Schülerin und in ihrem Leben im Haus und in der Familie – zwei Seiten, die sich keineswegs decken, sondern in vielfachem Widerspruche miteinander stehen. Denn während Herr Eck nach seinen eigenen glaubwürdigen Versicherungen bis ganz in die letzte Zeit ihres Hierseins keine Ursache hatte, über Carolinens Aufführung irgend erhebliche Klage zu führen, wissen die hiesigen Familien, in denen sie nach einander Aufnahme fand, deren eine Fülle gegen sie vorzubringen. Und gewissermaßen sind beide Anschauungen im Recht, wie die Folge lehren wird. Um es gleich hier kurz zu sagen: als Schülerin und Herrn Eck gegenüber war sie musterhaft; im Hause dagegen ließ ihr Betragen Vieles zu wünschen übrig.

Man hat Eck wohl hier und da den Vorwurf gemacht, daß er der Betrügerin von vorn herein zu viel Vertrauen, allzu große Leichtgläubigkeit bewiesen habe. Aber da wolle man doch nur bedenken, daß sie ihm von den Behörden übergeben wurde, ihr Unterricht zu ertheilen, nicht mit ihr richterliche Untersuchungen anzustellen, und daß sie ihm gegenüber auf der Schülerbank, nicht auf der Anklagebank saß!

Seinen Unterricht begann Herr Eck am 28. November 1854. Es ist höchst interessant, jetzt von ihm schildern zu hören, mit welch eigenthümlichen Gefühlen er sich ihr zum Beginn der ersten Unterrichtsstunde gegenübersetzte – mit dem Gefühle nämlich: daß sie so wenig ein Wort deutsch verstehe, als er eines ungarisch! Denn ihr ganzer Wortvorrath in unsrer Sprache schien sich damals immer noch wirklich fast nur auf das eine, überdies seltsam und undeutsch genug gebildete „Deutsch-Mama“ zu beschränken, womit sie ihre erste hiesige Pflegemutter, die Frau des Gefängniß-Aufsehers, im Gegensatz zu ihrer wirklichen „Mama“, nach der sie von Anfang an wimmerte, bis zum letzten Tag ihres Hierseins bezeichnete. Wie immer, traf sie, ob instinctiv oder reflectirend, auch hier das Richtige. Denn das erste Wort, was ein Ausländer in deutscher Sprache lernt, ist das Wort „deutsch“ selbst; ja selbst, wer gar nichts von der deutschen Sprache versteht, kennt doch meist die zwei

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