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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

aber es ist aus der Richtung gekommen – nach fünf Minuten banger Erwartung hört es auf zu schwimmen. Die Taue haben sich in den Felsen verwickelt, das Boot steht unbeweglich fest.

Die Blicke des Schiffbrüchigen haften verzweifelnd an dem Kahne – er begreift, daß er für diesmal der Hoffnung entsagen muß.

Nicht Willens, die kostbare Zeit mit unnützen Versuchen zu vergeuden, ergreift die Masse einstimmig den Vorschlag, ein Floß zu bauen, und tausend Hände regen sich, Alles wetteifert, Männer, Weiber und Kinder, alt und jung, reich und arm, die Arbeit schleunigst zu beginnen.

Aber die Erbauung eines Flosses erfordert eine Zeit, welche vielleicht zu lang für die Kräfte des Armen sein könnte, der die ganze Nacht ohne Nahrung im Wasser zugebracht, von dem erschütternden Donner des Falles umgeben, gegen welchen das Heulen der Charybdis ein schwaches Gemurmel wäre.

Diese Furcht ist die Urheberin einer andern Idee. Man füllt ein Faß mit Lebensmitteln und vertraut es der Strömung an. Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, schwimmt es in der Richtung des Baumstammes auf den Schiffbrüchigen zu – er sieht es mit einem Ausdruck unaussprechlicher Dankbarkeit, er streckt seinen Arm aus, erfaßt es, aber die Strömung reißt es aus seinen schwachen Fingern, und einige Minuten darauf hat es der Abgrund verschlungen.

Ein Mann in der Stromschnelle.
(Nach einer Originalzeichnung des Verfassers.)

War es die schmerzliche Täuschung allein oder die Ahnung seines schrecklichen Schicksales, die sich auf den Zügen Avery’s so deutlich ausprägte?

Unterdessen schreitet der Bau des Flosses rasch vorwärts, der Unglückliche verfolgt mit sehnenden Blicken den Gang der Arbeit; er klammert sich inniger an seinen einzigen Hoffnungsanker und wartet. –

Die Arbeit ist gethan; das Floß, von mächtigen Tauen gehalten und mit Seilen reichlich versehen, schwimmt auf dem Wasser. Es ist ein Augenblick furchtbarer Angst für alle die bangen Gemüther, der Athem stockt und jedes Wesen sendet seine innigsten Gebete für das Gelingen des Unternehmens zum Himmel.

Das Floß hält die Richtung nach dem Baume, es nähert sich reißend schnell; Avery hält sich gefaßt, ihn ermuthigt die Großherzigkeit seiner Retter.

In athemlosem Schweigen harrt die Menge, als sich das Floß bei ihm befindet, er springt – er fällt – er hält sich fest – er scheint gerettet. – Ein donnernder Jubelruf aus tausendfachem Munde zerreißt die Lüfte, und übertönt im Augenblick das schauerliche Gebrüll der Wasser, die ihre Beute fordern.

Ueberwältigt von der Wucht seiner Gefühle sinkt der Arme auf die Kniee, und hebt die Arme zum Himmel auf mit einem Blicke unendlichen Dankes. Doch kaum hat das Floß sich aufwärts bewegt, als auch er durch die verhängnißvolle Ursache aufgehalten wird, welche vorher den Kahn gefesselt hat. Die Taue haben sich um einen Felsen geschlungen, das Floß bleibt unbeweglich, obwohl man gleich alle Mittel versucht, die Taue abzuwickeln. Man spannt 2, 4, 10, endlich 20 Pferde daran – der Stein erzittert, er wankt, er stürzt.

Unaufhaltsam steigt das Floß aufwärts, es kämpft 5 bis 6 Minuten gegen die Strömung, und wieder ertönt das Jubelgeschrei der Zuschauer, das den Triumph des menschlichen Geistes über die rohe Naturgewalt verkündet.

Ein diesmal unübersteigliches Hinderniß hält aber plötzlich den Siegeslauf des unverzagten Muthes auf, ein Fall von vier Fuß Höhe, den das Floß trotz aller Anstrengungen der Ziehenden und Avery’s verzweifluugsvollen Versuchen nicht übersteigen kann. Und wieder ertönt in diesem Augenblicke höchster Angst der weithin schallende Ruf: „Tausend Dollars mehr für einen weitern Versuch der Rettung!“

Und wieder eilt eine Locomotive nach Buffalo, und bringt ein zweites Lebensboot. Es ist die höchste Zeit, die Kräfte des Verunglückten schwinden sichtlich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_709.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)