Seite:Die Gartenlaube (1858) 669.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 47. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Rath Braunstein und Familie.
Ein Lebensbild von Ernst Fritze.
(Schluß.)


Diese Epistel übergab sie offen ihrem Vater, als er, etwas angegriffen von der ceremoniellen Scene, aus dem Gerichtslocale nach dem Hotel zurückkam. Mit einer unwiderstehlichen Gebehrde bat sie ihn „um eine kleine, kleine Nachschrift für die Mama“, und als er lächelnd zu willfahren versprach, zog sie sich schleunigst in ihr Zimmer zurück.

Kaum hatte sie die Thür hinter sich geschlossen und der neue Herr Vicepräsident etwas widerstrebend die Feder zur Hand genommen, als der Kellner des Hotels ehrerbietig in’s Zimmer trat und den „Herrn Appellationsgerichtsassessor Windhagen“ meldete.

Frappirt und einen ganz absonderlichen Anlaß zu diesem nicht gewöhnlichen Besuche ahnend, nahm der Vicepräsident den jungen Mann an, der gleich darauf zu ihm eintrat.

Braunstein erkannte ihn sogleich wieder. Er hatte ihn unter dem Personale des Gerichts bemerkt und war einigermaßen bewundernd mehrmals mit seinen Blicken zu ihm zurückgeschweift. Nicht, daß er einer jener schönen Männer gewesen wäre, denen die Mädchenblicke huldigend folgen, aber es lag etwas so Bedeutendes in dem Ausdrucke seiner Augen, in dem kaum bemerkbaren Lächeln seines Mundes, ja selbst in der Haltung des ganzen Körpers, daß er, trotz einiger Unregelmäßigkeiten in den Gesichtszügen, zu den hervorragendsten Männergestalten zählte.

Wie gesagt – der neue Vicepräsident hatte nicht umhin gekonnt, diesen jungen Mann verschiedene Male mit ernstem Wohlgefallen zu beobachten.

Assessor Windhagen schritt dem Präsidenten Braunstein bis zur Mitte des Zimmers entgegen und verneigte sich dann nochmals mit jener Ehrerbietung, die mehr dem eigenen Herzen entstammt, als dem Herkommen gemäß ist.

Braunstein reichte ihm grüßend die Hand entgegen, die der Assessor unter einem Anflug von Erröthen annahm, und sogleich begann: „Der ehrliche Mann, Herr Präsident, wählt stets den geraden Weg! Ihr befremdeter Blick hat mir hinlänglich verrathen, daß Sie es tadeln, mich unter den obwaltenden Umständen noch unter denen zu finden, die künftighin die Ehre haben werden, unter Ihrer Direction zu arbeiten.“

Braunstein unterbrach ihn jetzt rasch mit höchster Verwunderung:

„Mein Blick? Mein befremdeter Blick? – Herr College – hier waltet wohl ein Irrthum ob.“

Der junge Mann hatte aber ziemlich aufgeregt weiter gesprochen: „Ich würde Ihnen unsere Begegnung erspart haben und sogleich bei der Nachricht Ihrer Ernennung zum Präsidenten von hier weggegangen sein, wenn nicht pecuniäre Verhältnisse meinem Vorhaben entgegengestanden hätten. Herr Präsident, ich bin arm, noch unbesoldeter Assessor, und habe meine Existenzmittel bis dahin durch eine bedeutende Remuneration des Justizraths Klemann, dessen rechte Hand in Anwaltsgeschäften ich bin, erworben. Es würde mir unmöglich sein, ohne diese Erwerbung zu leben, und ich kann nicht hoffen, an einem andern Orte, wo ich fremd bin, sogleich eine solche Nebenerwerbsquelle zu finden – deshalb, Herr Präsident, ersuche ich Sie, mir den Aufenthalt für jetzt noch hier zu gestatten oder, wenn Ihnen meine Persönlichkeit ganz zuwider ist, mich auf das Schleunigste mit irgend einem Commissorium zu betrauen, das mich von hier entfernt. Wohin Sie mich senden wollen, ist mir gleich – ich sehe ein, daß selbst die Bergwerke Sibiriens keine zu harte Strafe für meine unverzeihliche und unvorsichtige Offenherzigkeit sein können!“

Voll Erstaunen, aber mit ernster Haltung, hatte Braunstein den jungen Herrn ruhig sprechen lassen, bis dessen Verbeugung ihm bekundete, daß er fertig mit seinem Vortrage war. Dann erwiderte er sehr freundlich:

„Es muß hier ein Irrthum obwalten, mein lieber junger College, aber mir ist dieser Irrthum angenehm, weil er mich sogleich mit Ihnen in nähere persönliche Berührung bringt, die für mich ein Vortheil ist.“

Der Blick des Assessors bewölkte sich, und sein Auge streifte mißtrauisch über die Mienen seines Vorgesetzten hinweg, die mehr Wohlwollen verriethen, als bloße Höflichkeit.

Der Präsident fuhr fort:

„Ich finde trotz meines Nachdenkens keine Veranlassung, Ihre Entfernung, welche unter den mir vorgelegten Gründen ein Exil sein würde, zu wünschen. Sollte sich unter meinem Vorgänger etwas ereignet haben, was diese Maßregel nöthig macht, so muß ich Sie bitten, Ihre Offenherzigkeit ganz ohne Scheu weiter auszudehnen.“

Der Assessor trat einen Schritt zurück und sah ihm fest in’s Auge. Es lag Entschlossenheit, aber es lag auch Ironie in dem Ausdrucke, womit er seinen Blick auf ihn fixirte.

„Sie irren, Herr Präsident! Die Angelegenheit zwischen uns ist eine rein persönliche Berührung –“

„Aber mein Gott – ich habe Sie ja noch nie gesehen!“

„Doch aber gewiß von mir gehört?“

Braunstein sann nach. „Wildenhagen – Wild –“

„Nein, Herr Präsident – Windhagen!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_669.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2020)