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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Staats-, Volks- und Lebensstreit zwischen Land und Leuten. Von außen wurde der Streit genährt. Endlich kam im September 1597 ein Vergleich zu Stande, freilich ein Vergleich, der nicht vereinigte, sondern zerriß, völlig zerriß. Das Land Appenzell blieb zwar in der Eidgenossenschaft ein Ganzes, Eines. Im Innern aber war es fortan in zwei vollständig geschiedene selbstständige Ländergebiete getrennt, die nichts weiter mit einander gemein hatten, nicht Verfassung, nicht Lasten, nicht Rechte, nicht Behörden, auch nicht Landesgemeinde. Die Trennung wurde als eine so rein confessionelle aufgefaßt und durchgeführt, daß die einzelnen katholischen Leute, die sich noch in Außerrhoden befanden, nach Innerrhoden, dagegen die protestantischen Einwohner der inneren Rhoden nach den äußeren Rhoden ausgetauscht wurden. Nur zwei Klöster, Wonnenstein und Grimmenstein, konnten nicht über die Grenze transportirt werden; man mußte sie in den äußeren Rhoden lassen.

Die Trennung ist, wie gesagt, geblieben. Der jetzige eidgenössische Canton Appenzell, in der Eidgenossenschaft nur Ein Canton, zerfällt in die beiden „Halbcantone“ Außerrrhoden und Innerhoden. Dieser ist auch seitdem streng katholisch, jener protestantisch geblieben.

Der Größe nach hat Innerhoden vier Quadratmeilen mit 16,000 Einwohnern, Außerrhoden hat sechs Quadratmeilen 44,000 Bewohnern.

Wir haben es hier nur noch mit Außerrhoden zu thun.

Daß es ein schönes Land, das fruchtbarste Weideland ist, habe ich schon gesagt. Aber darum hat es nicht blos Viehzucht, und seine Bewohner sind nicht blos Viehhirten und Käsefabrikanten, Schon seit einer Reihe von Jahren hat ein anderer Gewerbszweig durch das ganze Land sich verbreitet: Baumwollenweberei und Stickerei. Die Appenzeller Stickereien haben sich in der ganzen Welt berühmt gemacht. In jedem Bauernhause sind Weber und Stickerinnen. Die Viehzucht läßt ihnen Zeit genug zu diesen Beschäftigungen. Herisau, der Hauptort des Cantons, ist ein bedeutender Fabrikort geworden. Teufen nicht minder. Auch anderswo im Lande findet man größere Fabriken zerstreut. Die Fabrikherren sind mitunter sehr reiche Leute, Millionäre. Wohlhabenheit sieht man im ganzen Lande.

Auch auf der Landesgemeinde versammelt sich daher nicht blos ein Volk von Bauern und Hirten. Sie sind da; aber mit ihnen sind auch Fabrikanten und Kaufleute da, die nicht nur an Reichthum, sondern auch an Bildung und Kenntnissen Niemandem ihres Standes anderswo nachstehen. Sie haben wieder andere, weitere, selbst gelehrte Bildung in das Land hineingezogen. Ich habe bei Gelegenheit der Landesgemeinde ältere und jüngere Aerzte, junge Rechtsgelehrte kennen gelernt, die auf den schweizerischen, aber auch auf den ersten deutschen Universitäten ihre Studien gemacht hatten und vielfach die Lieblinge der berühmtesten Lehrer geworden waren. In dem Director der Cantonschule zu Herisau fand ich einen tüchtigen Pädagogen, und der Appenzeller Grunholzer, hier in Zürich seit Jahren mein lieber Freund und Miteinwohner, ist der erste Pädagog und populärste Name in der Schweiz.

Was das Land Appenzell geworden ist, das ist es durch sich selbst, einzig und allein durch das Volk geworden, durch seine freie Verfassung. Auch diese Verfassung hat sich das Volk selbst gegeben.

Und wie einfach ist diese Verfassung! Wie einfach die ganze Gesetzgebung des Landes! Ich habe sie hier gedruckt vor mir liegen, die Verfassung und die sämmtlichen Gesetze des Landes. Und was meinen Sie, mein lieber Freund, wie viele Bände es wären?

Ein einziges Bändchen ist es, klein Octav, groß gedruckt, und 440, sage vierhundert und vierzig Seiten stark.

Aber von dieser Verfassung der Appenzeller muß ich Ihnen nun noch Einiges mittheilen, ehe ich Ihnen von der Landesgemeinde am 3. October dieses Jahres erzählen kann. Ich könnte Ihnen sonst von dieser eben nicht viel Verständliches sagen.

In der Schweiz sind jetzt noch vier Cantone, die ihre uralte Verfassung beibehalten haben, und zwar in der Art, daß das gesammte Volk alljährlich zu der Landesgemeinde zusammentritt, um seine Obrigkeit zu wählen, die Verwaltung der abgehenden Obrigkeit zu prüfen und, wenn es nöthig sein sollte, sich neue Gesetze zu geben. Nach dieser rein demokratischen Verfassung werden sie besonderlich „die Schweizerischen Demokratien“ genannt. Es sind die Cantone Uri, Unterwalden, Glarus und Appenzell. Ein paar andere Cantone führen gleichfalls noch den Namen. Aber sie haben sich in neuerer Zeit mehr eine Repräsentativverfassung gegeben.

Die anderen Cantone wurden früher bekanntlich durch einzelne privilegirte Städte oder Familien regiert. Jetzt sind aber auch sie sämmtlich demokratisch, sie haben nur keine allgemeine Urversammlung, keine Landesgemeinde. Sie üben Wahlen und Gesetzgebung durch Abgeordnete aus, freilich nicht immer alle Wahlen, wie z. B. in Genf. Die Landesgemeinde bildet also das wesentlichste Kennzeichen jener Demokratien.

In Appenzell-Außerrhoden besteht sie aus allen „Landleuten“ (Cantonsbürgern), „die den Religionsunterricht erhalten und das 18. Jahr erreicht haben.“ Ausgeschlossen sind nur die, „welche ehr- und wehrlos, d. h, unter Scharfrichters Hand gewesen sind.“ Sie wird alle Jahre gehalten, am letzten Sonntag Aprils, abwechselnd in den Dörfern Hundwyl und Trogen. „Sie ist die oberste Gewalt im Lande; was sie erkennt, soll keine Behörde abändern oder aufheben mögen.“ Sie wählt alle Landesbeamte; ihr allein kommt es zu, neue Gesetze zu machen und alte abzuändern oder abzuschaffen, Sie ertheilt das „Landrecht“ (Staatsbürgerrecht). Die Jahresrechnungen (der Landesverwaltung) werden ihr vorgelegt. Das ist die ordentliche Landesgemeinde.

Es können aber auch außerordentliche Landesgemeinden gehalten werden: „so oft die Obrigkeit es nöthig findet“, oder auch, wenn „Landleute sie verlangen“. In dem letzteren Falle kann Jeder sich an die Obrigkeit wenden und diese muß entweder dem Antrage entsprechen oder unverzüglich außerordentliche „Kirchhören“ (Gemeindeversammlungen) anordnen. „Wenn dann wenigstens zehn Kirchhören dafür sind, so soll die Landesgemeinde außerordentlich versammelt werden, und zwar ebenfalls an einem der beiden Orte, wo die ordentlichen Landesgemeinden stattfinden, jedoch ohne Rücksicht auf diese.“

Einer solchen außerordentlichen Landesgemeinde wohnte ich am 3. October in Hundwyl bei.

(Fortsetzung folgt.)




Otto Ule.

Unter den an Zahl täglich zunehmenden berufsmäßigen Naturforschern muß man zwei Classen unterscheiden. Die Einen haben bei ihrem Forschen nur die Förderung der Wissenschaft an sich im Auge, wobei sie dem sehr verzeihlichen Ehrgeiz huldigen, ihrem Namen in den Annalen der Wissenschaft einen Ehrenplatz zu erringen. Die Andern bestimmen ihr wissenschaftliches Streben nur nach dem Grundsatze, daß vor allen andern die Wissenschaft der Natur Gemeingut Aller sei, und ihr Ehrgeiz ist darauf gerichtet, den Dank des Volkes zu gewinnen, dem sie klare Einblicke in den Naturhaushalt und somit das Verständniß ihrer irdischen Heimathsangehörigkeit eröffneten.

Wer wollte den Rang zwischen beiden Classen abwägen? Beide sind gleicher Ehre werth, die auch beiden von dem Volke bereitwillig zuerkannt wird.

Um so betrübender ist es, daß nicht wenige Naturforscher der erstgenannten Classe mit einer gewissen Geringschätzung auf die anderen herabsehen, und die „Popularisirung“ für eine Entweihung der Wissenschaft halten. Einigen Grund zu dieser Anschauung haben Jene darin, daß sich allerdings unter die Zahl der naturwissenschaftlichen Volksschriftsteller mancher Unberufene eingedrängt und bei dem urtheilsunfähigen Publicum wohl gar einen großen Beifall gefunden hat.

Vielleicht mehr noch als hierin finden die strengen Forscher der ersten Classe einen, freilich nicht berechtigten, Grund, die Volksschriftsteller über die Achsel anzusehen, weil diese Letzteren meist nicht selbst forschen, sondern das von ihnen, den strengen Forschern, Erforschte nur weiter verbreiten, indem sie es für das Verständniß des großen Publicums zurichten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_664.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)