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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

waren von der Spitze bis zum Grunde mit Menschen bedeckt, die von allen verschiedenen Seiten nach dem Einen Mittelpunkte, dem alten Dorfe Hundwyl, herunterstiegen und zusammenströmten.

Das war auch ein Anblick, den man nie vergessen kann.

Ich erreichte das Dorf, eins der ältesten des Appenzellerlandes. Man sah ihm freilich sein Alter nicht sehr an. Altes und Verfallenes sah man wenigstens gar nicht darin. Die Bauart einiger Häuser schien zwar besonders eigenthümlich zu sein. Aber wenn es mir hier auffiel, so hatte ich wohl nur anderswo nicht so genau darauf geachtet. Die Bauernhäuser in den Schweizer- und besonders Appenzellerdörfern haben überall ihre eigenthümliche alterthümliche Bauart.

Andere Häuser, als die von Holz aufgeführten Bauernhäuser sah man in dem Dorfe nicht. Nur eins der Wirthshäuser war anders, neuer gebaut. Aber selbst das Pfarrhaus unterschied sich von den anderen Bauernhäusern nicht.

Ueberall aber sah man auch in diesem Appenzellerdorfe die Wohlhabenheit. Auch die Kirche zeigte sie. Sie war, mit ihrem Thurme, vor wenigen Jahren reparirt. Sie war so hübsch und freundlich, wie ich selten eine Dorfkirche gesehen habe. In der Evangelischen Schweiz gewiß nicht. Diese reformirten Kirchen, in denen man gar nichts sieht, als kahle, nackte, meist graue Wände und an einer der Wände einen schwarzen Gegenstand, der einer alten Tonne ähnlich sieht und die Kanzel ist, sie sind nicht mehr einfach, sie machen nicht den edlen, oft erhabenen Eindruck der Einfachheit; sie sind traurig einförmig und machen den Eindruck einer Wüste, in der man eben nichts findet, am allerwenigsten Liebe und Erhebung. Für mein Gefühl sind sie einmal so. Können Andere andere, bessere Eindrücke darin empfangen, desto besser.

Der Ort wimmelte schon von Menschen. Alle waren in ihrer festlichsten Sonntagstracht. Das Dorf selbst lag blos in dem Festschmucke des schönsten, klarsten, sonnigsten Herbstsonntagmorgens da. Nicht einmal eine einzige Fahne war zu sehen. Es fiel mir um so mehr auf, als man sonst in der Schweiz bei jeder Gelegenheit Fahnen sieht. In Zürich zum Beispiel findet keine Localfestlichkeit statt, ohne daß jedes Haus und in manchem Hause jedes Fenster seine rothweiße – die eidgenössische Farbe – und blauweiße (die Zürcherische) Fahne aufgesteckt hat.

Daß eine große Versammlung erwartet wurde, zeigten nur besonders eine Menge von Buden, die im Dorfe, namentlich in der Nähe der Kirche und der Wirthshäuser, aufgerichtet waren. Ungeheuer viele Kuchen und Cigarren waren da.

Auch ein Handelsmann mit Volksbüchern und Bildern. Er war aus dem würtembergischen Städtchen Friedrichshafen drüben vom Bodensee herübergekommen. Seine Bude war die am meisten umlagerte. Sie zog – ja, es muß heraus – selbst in diesem alten, schweizerischen, republikanischen, demokratischen Canton, die Leute heran, durch die europäischen Potentaten, die stolz und in prächtigen Farben, hoch zu Rosse, an einem Faden neben einander hoch für Alle sichtbar aufgehängt waren. Und hatte der Mann sie so absichtlich sinnreich neben einander aufgerichtet?

Zuerst kam „Ihro Kaiserliche Hoheit, Olga, Kronprinzessin von Würtemberg.“ Der Mann war ja Würtemberger, und er zeigte, daß der Schwabe eben so galant, wie patriotisch sein kann. Neben ihr hing, wie billig, ihr Gemahl, der Kronprinz von Würtemberg.

Dann kam – nicht der König von Würtemberg. Ach, der ist schon alt, er zählt schon seine 76 Jahre, und – war der Mann auch ein Höfling, der sich, um die untergehende Sonne unbekümmert, nur der aufgehenden zuwendet? Ja, ja, wenn es die Fürsten nur immer wissen wollten, der moderne Patriotismus besteht vielfach nur in solchem – Sonnendienste.

Neben dem Kronprinzen von Würtemberg hing der Kaiser Alexander II. von Rußland. „Unser Schwager“ sagten die Berliner früher von seinem Vater, dem Kaiser Nicolaus.

Auf den Kaiser von Rußland folgte der – türkische Sultan, und auf diesen die Königin Victoria von England. Und diese Aufstellung, mein lieber Freund, war äußerst sinnreich und gelungen. Der arme Sultan sah so schrecklich blaß und krank und elend aus, in der Mitte jener beiden Potentaten. Die Königin Victoria sprengte auf ihrem hohen Engländer so stolz auf ihn zu. Er fürchtete sich offenbar vor ihr. Er wollte ihr entfliehen. Er sah noch halb nach ihr zurück, er wollte sein Pferd in Galopp setzen. Da blickt er vor sich, und unmittelbar vor ihm sprengt von der anderen Seite, drohend, den Säbel geschwungen, der russische Kaiser auf ihn ein. Wohin soll der arme Sultan? Hier England, hier Rußland! Er konnte wohl blaß und kläglich aussehen.

Hinter der Königin Victoria kam der Kaiser Napoleon III. Sie hatten einander den Rücken zugedreht.

Dann kam der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Er war der Letzte. Er und der Kaiser Napoleon sahen sich etwas verwundert an.

Aber von den hohen Potentaten wieder zu der Republik, zu der einfachen Bauernrepublik.

Schelten Sie mich, wie Sie wollen, mein lieber Keil; ehe ich zu der Landesgemeinde des Appenzellerlandes komme, muß ich Ihnen doch noch Einiges über Land und Leute von Appenzell sagen.

Das Land Appenzell stand in früheren Zeiten unter der Grundherrschaft des Abtes von St. Gallen. Die Leute in Appenzell wurden von dem Abte behandelt, wie andere Klosterleute. Aber sie hatten früh einen freien, selbstständigen Sinn. Schon im Jahr 1367 standen sie auf gegen den Abt, um eine mildere Behandlung zu verlangen. Sie erhielten diese. Der Abt gab ihnen sogar, was früher nicht geschehen war, einheimische Amtmänner.

Es kam darauf an, den besseren Zustand sich zu sichern. Dazu schlossen sie, unter Vermittelung der ihnen befreundeten Stadt St. Gallen, eine Verbindung mit dem schwäbischen Städtebunde. Hierdurch war ihre Freiheit gesichert. Hieraus entstand auch zuerst ihre Landesgemeinde, die bis auf den heutigen Tag fortgewährt hat.

Nämlich am 22. Mai 1378 empfahl ein Bundestag der Schwäbischen Reichsstädte, zu Ulm versammelt, die Gemeinden, „Lendlin,“ von Appenzell der besonderen Aufsicht und Fürsorge der zwei benachbarten Städte St. Gallen und Constanz, und beschloß zugleich, daß jene aus ihrer Mitte dreizehn Männer erwählen möchten, welche die gewöhnlichen Steuern und andere gemeine Ausgaben unter sämmtliche Landleute nach Markzahl ihres Vermögens zu vertheilen und dafür zu sorgen hätten, daß dem Bunde die nöthige Hülfe geleistet werde. Diese dreizehn Männer wurden alle Jahre von den zu diesem Zwecke zusammentretenden Gemeinden des Landes gewählt und so entstand die jährliche „Landesgemeinde,“ und der erste Anfang der noch jetzt in dem Canton bestehenden demokratischen Verfassung.

Fast unmittelbar darauf, seit dem im Jahre 1379 erfolgten Tode des Abtes Georg von St. Gallen erhoben sich nun aber auch fortwährende Uneinigkeiten und Reibungen mit dem Grundherrn, dem Kloster zu St. Gallen, die zuletzt zu einem langwierigen Kriege führten, in welchem auf Seiten der Appenzeller ihre Eidgenossen, darunter auch schon Schwyz, Unterwalden und Glarus, auf Seiten des Klosters aber mehrere mit ihm verbündete Reichsstädte standen. Am 14. Mai 1403 erlitt das Heer des Klosters und dieser Reichsstädte bei Vögelinseck eine schimpfliche Niederlage. Die Reichsstädte verließen darauf den Abt, der sich nun mit dem Herzoge von Oesterreich verbündete. Das hatte neue Bündnisse der Appenzeller mit ihren Nachbarn zur Folge, und so entstand der berühmte „Bund ob dem See“ (Bodensee), zur Festhaltung der Freiheit und der volksthümlichen Verfassung auf beiden Seiten des Rheines oberhalb des Sees. Nach der Schlacht am Stoß, 17. Juni 1405, die das Kloster wieder verlor, stand das kleine Appenzell gar an der Spitze dieses Bundes. Im Jahre 1421 kam demnächst auch ein Vergleich mit dem Kloster St. Gallen zu Stande, durch welchen, unter Vorbehalt mancher Rechte des Klosters, das Land Appenzell als ein Freistaat ausdrücklich anerkannt wurde.

Im Jahre 1513 wurde Appenzell, als „dreizehnter Ort“ in die schweizerische Eidgenossenschaft aufgenommen.

Das Land hatte nun Freiheit, Friede und Sicherheit. Der Friede sollte ihm bald wieder genommen werden. Die Lehre des Friedens, der Liebe, die so oft gerade von ihren Priestern zu Unfrieden, zu Hader und blutigem Streit mißbrauchte Lehre der christlichen Religion, war die Veranlassung, auch dem friedlichen Lande einen Hader zu bringen, der es für immer, bis auf die gegenwärtige Zeit hinab, getrennt hat. Die neue Lehre Zwingli’s drang auch in das Appenzellerland, aber nur in die äußeren Rhoden, die von dem Orte Appenzell entfernteren, äußeren Bezirke des Landes. Die inneren Rhoden, die Bezirke mit und um Appenzell herum, blieben bei dem alten Glauben. Die Glaubensverschiedenheit wurde zum Glaubensstreit; der Glaubensstreit wurde zum

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