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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Wildbad Gastein ein und eine halbe Stunde entfernt; ich hatte also Zeit genug, mir die Fahrt ordentlich zu überlegen. Mein Weg führte durch ein sonniges, stilles Hochalpenthal. Das Donnern und Toben der Wasserfälle war verschwunden, eine Sonntagsruhe lag über den grünen Matten ausgebreitet, zwischen denen die silberhelle Ache langsam dahinglitt. Nur der Rathhausberg, der im Hintergrunde aufstieg, blickte mich mit seinen schneegefleckten Kuppen recht ernst an. Links über dem Anlaufthal blickte der Schneegipfel des Ankogl über die braunen Gneis- und Granitwände hervor, und über die Schultern des Rathhausberges schaute das eisige Haupt des Scharecks in das Thal hinein. Bald sah ich das Poch- und Almalgamierwerk und die kleine weiße Kirche mit der runden Kuppel vor mir; der Verwalter schrieb mir auf ein Blatt Papier die Worte: „Vorzeiger dieser benutzt die Maschine,“ und nach einer halben Stunde stand ich auf dem Sturzplatz.

Der Wagen war gerade oben auf dem Berge. Er wurde mit Erzstufen beladen, welche zum Ausschmelzen hinabgeschafft werden sollten, und einige Arbeiter standen mit einem Wagen unten, um die Stufen aufzuladen. Ein neues Ende Tau, ein Stück desselben Taues, womit der Wagen hinaufgezogen wird, lag auf der Erde. Ich betrachtete mir das Seil, es war freilich dünn, aber so fest und aus so starkem Hanf gedreht, daß es mir fast wie von Eisen vorkam. Meine Besorgniß, daß es reißen könne, verschwand nach und nach ganz. Die Holzbahn zog sich in einer geraden Linie zu dem Gipfel des Berges empor. Ich konnte sie von Anfang bis zu Ende mit den Augen verfolgen; sie schien mir, im Profil betrachtet, beinahe in senkrechter Linie in die Höhe zu steigen. Ich kann nicht leugnen, die Sache sah äußerst gefährlich aus, und der Gedanke, in einigen Minuten, auf einem Bret stehend, auf dieser abschüssigen Bahn einige tausend Fuß in die Höhe gezogen zu werden, machte mich ängstlich. Jetzt ging ich einige Schritte zur Seite, und sah mir die Holzbahn nochmals an. Ich bemerkte, was ich im Profil nicht gesehen hatte, daß die Richtung der Balken keine ganz senkrechte war, sondern daß sie in verschiedenen Neigungswinkeln hinaufstiegen, oft einen großen, oft einen geringen Neigungswinkel mit den Felswänden beschreibend. In der Höhe konnte ich freilich die Stärke der Neigungswinkel nicht messen; jedenfalls beruhigte mich meine Bemerkung nur noch mehr. Durch den Ruf eines der Arbeiter, denen ich gesagt hatte, daß ich mich hinaufziehen lassen wollte: „der Wagen kommt!“ wurde ich in meinen weiteren Betrachtungen gestört, und ich eilte schleunigst, um die Ankunft des Wagens zu beobachten, zum Sturzplatze zurück.

Ich sah in die Höhe und zog die Uhr.

Ein kleiner, dunkler Punkt erschien oben am Gipfel des Berges auf der Bahn. Er sah aus, wie ein Stein, der hinabrollt. Der Punkt rückte mit einer enormen Geschwindigkeit auf seiner Bahn vorwärts. Ich sah ihn plötzlich größer und plötzlich kleiner, je nachdem die Bahntrace eine größere oder geringere Neigung machte. Er rückte immer schneller vorwärts. Endlich erkannte ich einen kleinen, mit Erzstufen beladenen Wagen, die mit Eisen beschlagenen kleinen Räder blitzten, wie zwei funkelnde Streifen, in der Sonne. Immer rückte der Wagen näher, immer schien seine Geschwindigkeit, je näher er heranrollte, zuzunehmen, dann sah ich ihn mit der Schnelligkeit eines Wurfgeschosses durch die Luft fliegen, nun hörte ich das Geräusch der Räder auf den Bahnen, noch einige Secunden, und der Wagen schoß an mir vorüber, erst eine weite Strecke hinter dem Sturzplatze anhaltend.

Der Wagen hatte die 2000 Fuß in zehn Minuten zurückgelegt.

Ich kann nicht leugnen, es war mir eigenthümlich zu Muthe. Es war nicht das Gefühl der Furcht, was mich erfaßte, aber es erfaßte mich ein Schwindel, wenn ich daran dachte, daß ich mit derselben fabelhaften Geschwindigkeit in die Luft gehoben und aus der Waldregion eines tiefen Thales mit unsichtbarer Hand so auf einmal in die Alpenregion versetzt werden sollte.

„Nun, Herr, der Wagen muß bald wieder hinauf,“ unterbrach die Stimme eines Arbeiters, der die Erzstufen abgeladen hatte, meine Betrachtungen.

Ich sah den Wagen an, den der Mann eben von Schmutz und Staub reinigte. Es war ein Bret, welches auf einer Achse und zwei kleinen, dicken Rädern ruhte. Abwärts war ein ungefähr einen halben Fuß breites Bret vorgelegt, an den vier Ecken dieses sogenannten Wagens waren vier kurze, dicke Stricke befestigt.

Ich entschloß mich kurz und legte mich mit dem Rücken auf das Bret, die Füße gegen das untere Bret stemmend. Sodann ersuchte ich die Arbeiter, die beiden Ketten, welche die Erzstufen auf dem Wagen festgehalten hatten, mir über der Brust und über den Füßen zu befestigen. Ich prüfte mit der Hand, ob die Ketten eingehakt waren. Alles war in Ordnung. Der Strick fing an, straff angezogen zu werden. Das große Wasserrad oben am Berge war also in Thätigkeit. Die Fahrt begann. Der Wagen rollte aufwärts.

Die erste Steigung der Bahntrace war eine allmähliche, und die Geschwindigkeit, mit welcher der Wagen in die Höhe gezogen wurde, war anfänglich keine sehr große. Ich lachte über meine eigene Aengstlichkeit. Nach und nach gerieth das große Wasserrad oben indeß mehr in Schwung, die Geschwindigkeit vergrößerte sich und die Steigung der Bahntrace nahm zu. Dann und wann war meine Stellung noch eine horizontale, aber je höher ich mich über das Thal erhob, desto öfter richtete der Wagen sich in die Höhe und desto öfter kam ich in eine mehr gerade Richtung zu stehen. Die Arbeiter auf dem Aufladeplatze, der Wagen, die Pferde dort unten erschienen mir in immer mehr verkleinertem Maßstabe. Gerade vor mir erhob sich die Wand des Hirschkahrs. Als ich unten auf dem Sturzplatze stand, schien sie mir nicht höher zu sein, als die Thalwand, an der ich hinaufgezogen werden sollte. Jetzt hatte ich die ganz umgekehrte Erscheinung. Je höher ich stieg, desto höher schien mir die Wand zu wachsen. Es mußte eine Täuschung meiner Sinne sein, ich konnte mir die Täuschung nicht erklären, aber die Wand erschien mir riesengroß. Der untere Theil der Wand ist mit Waldung, mit dunkeln Tannen und Fichten bedeckt; wo die Waldung aufhört folgen die grünen Alpen und Matten mit ihren braunen Sennhütten; über ihnen erheben sich die nackten Gneisfelsen und die Felsenhörner der Wand sind bereits schneegefleckt. Ueber die Waldregion war ich bereits hinaus, die Matten und Sennhütten lagen gerade vor mir, aber statt kleiner zu werden, schien mir die Wand immer noch in die Höhe zu steigen.

Ich blickte wieder nach unten. Pferde, Wagen und Arbeiter auf dem Ausladeplatze erschienen mir wie schwarze Punkte. Ein Sonnenfunke blitzte in der Ferne auf der kupfernen, runden Kuppel der Böcksteiner Kirche. Ich mußte bereits an die tausend Fuß gestiegen sein, wenn ich mich nicht in der Entfernung täuschte. Ich hielt mich nur mit der einen Hand, zog mit der andern die Uhr und hielt sie mir vor die Augen; denn ich lag wieder horizontal auf dem Rücken. Die Fahrt hatte erst acht Minuten gedauert, ich konnte mich also noch nicht tausend Fuß erhoben haben. Ich steckte die Uhr wieder ein und ergriff die für einen Augenblick losgelassene Leitwalze. Ich hörte nichts, als das Rollen der Räder auf den Bahntracen und das Rauschen des Windes in den Bäumen, welche auf den Felsgipfeln standen, an denen ich vorübersausete.

Plötzlich erhob sich der Wagen ganz vertical. Ich lag nicht mehr auf dem Rücken, sondern ich stand ganz gerade auf den Füßen. Mein einziger Stützpunkt war das Wagenbret, auf welches ich die Füße stemmte. Es war die erste steile Wand, die ich zu passiren hatte, die Bockmahldwand. Unwillkürlich schaute ich hinab. Die Pyramide des Cheops, das höchste Bauwerk der Erde, ist, wenn ich nicht irre, 431 Fuß hoch. Es waren wenigstens wieder fünf Minuten verflossen, seitdem ich nach der Uhr gesehen hatte; ich mußte jetzt drei Mal so hoch über dem Boden stehen, wie die Spitze der höchsten Pyramide. Gerade unter mir blickte ich in eine entsetzliche Tiefe. Den Boden, das Ende der Tiefe sah ich nicht, der Blauduft des Schattens verbarg es mir. Von dieser Tiefe trennte mich nur ein schmales, dünnes Bret, auf dem meine ganze Last ruhte. Wenn das Bret bräche –!

Ein Schwindel ergriff mich. Die Sennhütten drüben auf der Hirschkahrwand bewegten sich, sie schwankten hin und her. Ich konnte sie nicht mehr ansehen und blickte nochmals abwärts. Noch immer stand ich ganz gerade und der Wagen schien mir pfeilschnell aufwärts zu fliegen. Krampfhaft umfaßte ich die Leitwalzen und hob die Füße unwillkürlich etwas über das Bret empor, um dasselbe so wenig, wie möglich, zu belasten. Noch ein Blick in die Tiefe. Der Schwindel nahm zu. Ich verlor die Besinnung. Die beiden Ketten, mit denen ich um die Brust und an den Füßen befestigt war, hielten mich fest. Ich schloß die Augen.

Dann fühlte ich, wie der Wagen langsamer rollte. Die steile Wand war überstanden; ich lag wieder in meinem Wagen auf dem Rücken. Ich schlug die Augen auf und schaute in die azurblaue Luft. Der Blick stärkte mich. Nach und nach schwand der Schwindel.

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