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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

cultivirten Districtes aus, voller schattiger Haine und Grotten, aus deren üppigen Laubdächern goldenschimmernde Tempel, malerische Bonzenklöster und garten- und springbrunnenumhegte Privatresidenzen hervorleuchten. Dazwischen kreuzen sich Labyrinthe von Wegen und Straßen mit endlosem Gewimmel von Last- und Lustwagen, seiden auswattirten Tragstühlen, Frucht- und Gemüsekarren, Fuhrleuten mit Mukden-Butter oder mongolischem Arac. Aus diesem malerischen, vielfarbigen Wirrwarr ragen die Hälse und Rücken schwerbeladener Dromedare, die russische Producte weither von Kiachta und vom Amur herbeiwiegen und chinesische Theekisten, Seidenstoffe, Schnitzwerke u. s. w. wieder davontragen. Näher nach der Stadt drängen sich schwarze Zöpfe, gelbe Gesichter und blaue Kittel um zahllose „Theater im Freien“, Luftspringer, Jongleurs, Tabuletkrämer oder Verbrecher, deren Köpfe aus schweren Bretern, die sie tragen müssen, hervorragen.

Endlich kommt man durch dieses Ameisengewimmel von Menschen in die Nähe eines der sechzehn Thore, die alle ganz egal aussehen in ihrer thurm- und festungsartigen Architektur und ihren blauen Dächern. Man windet sich durch einen großen Bogengang, der in einen großen, umhegten Raum führt, wo Wachtposten und Beamte verschiedene polizeiliche Functionen vorzunehmen scheinen. Der große Raum dient hauptsächlich als Exercirplatz für Truppen. Am Ende desselben muß man durch einen zweiten Bogengang, an dessen Seiten Cavalleriewege auf die schweren, dicken, breiten Mauern hinaufführen. Sie umgeben 45 Fuß hoch die tatarische und 30 Fuß hoch die chinesische Stadt und sind so breit, daß vier Wagen oder acht Reiter nebeneinander passiren können. Unten aus den Wänden und von oben drohen zahlreiche Kanonen. Die Mauern beider Stadttheile haben einen Umfang von 24 englischen Meilen. Mit den Vorstädten bedeckt Peking mehr Raum, als das größte Städteungeheuer London. Nach den Namen der Thore und Straßen zu schließen, haben die Chinesen mehr Geschmack und Poesie, als wir Europäer. In London heißt Alles Victoria- oder Albert-, Wellington-, Königs-, Königinnen-, Herzogs-, Russel-, Jones-, John-, Johnsen-, Johnston- (zu Deutsch: Schulz-, Schulze-, Schultz- und Schultzen-) Straße, Platz, Square oder Terrain, in Berlin Alles Friedrichs-, Wilhelms- oder gar Puttkammerstraße, in Amerika hören die Namen ganz auf und die Straßen sind blos numerirt. Die zwei nördlichen Thore Pekings heißen übersetzt (wodurch sie freilich langstielig und lächerlich werden): „Thor erhabener Tugend“ und „Thor ewigen Friedens“. Ersteres ist stets geschlossen und wird blos für den Einmarsch siegreicher Armeen (die ganz aus der Mode gekommen zu sein scheinen) geöffnet. Das „Thor weiser und gelehrter Männer“ führt in das Professoren- und gelehrte Mandarinen-Viertel.

Aus dem Gebäude-Meere der Stadt ragen 700 Tempel und Klöster hervor, nach unsern Begriffen seltsam und bizarr in Bau, und Construction, aber phantasiereich, pompös und farbenglänzend. Im größten Buddhisten-Tempel sitzen fortwährend 300 Priester bewegungslos auf Postamenten an den Tempelsäulen.

Nach außen bilden die Häuser der Straßen in der Regel nur einförmige, polizeilichen Classen- und Standesregeln angepaßte Formen. Die Chinesen wohnen aber nicht nach der Straße, sondern nach dem Hofe und Garten zu. Hinter den Eingängen (und das sind hauptsächlich die Straßenfronten) entfaltet sich oft feenhafte Gartenpracht mit Parks, Felsen, Cascaden, Wasserfällen, klaren Flüßchen mit goldenen und silbernen Fischchen, üppigen Blumenbeeten, Zierteichen, Springbrunnen, Brücken, Grotten, Gondeln, luftigen Gartenhäusern, seidenen Vorhängen, weichen Polstern, elfenbeinausgeschnitzten Ornamenten, goldenen, silbernen und porzellanenen Geräthen aller Art. Vor den Fenstern dieser Gartenhäuser Außen-Gallerien ringsum, an deren Geländern üppige Schlinggewächse sich wiegen, blühen und duften. In diesen Gärten künstliche Berge mit zarten, glockenklingenden Thürmchen, von denen man weit umher über die Stadt und Haine, Gärten, Parks und künstliche Wälder blickt, auch auf den Kinhaï-See, den goldenen, umgeben von reichtöniger Vegetation, von Kiosks, Tempeln und Villen.

Dies gilt im vollsten Maße allerdings nur von den kaiserlichen Gärten, aber die der Großen, Reichen und Wohlhabenden sind wenigstens alle in diesem Style gehalten, wenn auch nur im dichtesten, kleinsten, überladenen Miniatur.

Die kaiserliche Residenz mit den Gärten bildet eine ganze, große, roth und gelb ummauerte Stadt für sich selbst: Tsen-king-sing, d. h. die verbotene Stadt. Die sonst ummauerte innere Stadt heißt Neï-tsching. Hier fallen zunächst die beiden großen, geraden, vierundzwanzig Schritte breiten Hauptstraßen durch ihren Läden- und Verkehrsreichthum auf. Die wogenden Meere von Menschen darin verstehen sich von selbst. Man sieht sie vor ihnen selber, wie den Wald vor Bäumen, nicht, desto mehr riecht man sie. Im Allgemeinen kleiden sich die Chinesen weder aus zum Schlafengehen, noch um, nachdem sie aufgestanden. Außerdem gibt’s 20–30,000 ganz obdachlose Menschen in Peking, die des Nachts schlafen, wo und wie sie eben können. Dazu kommt, daß die Leute allen Koth und Mist, den sie und Andere machen, sorgfältig in großen Steingefäßen aufbewahren, bis sich Gelegenheit zum Verkaufe oder zur Verwendung auf eigenen Grundstücken findet. Aus diesen und anderen Gründen sind die Chinesen nichts weniger, als „ruchlos“.

Die Läden haben keine Schilder, sondern große, seidene Fahnen an langen Stangen vor den Eingängen mit Verzeichnissen der verkäuflichen Artikel. Dies gibt über dem Gewimmel unten ein malerisches, heiteres Flattern und Flappen von oben. Viele Verkäufer in den Läden fabriciren gleichzeitig und zwar vor den Thüren, wo auch die meisten Handwerker schmieden und schneidern, pochen und hämmern, schnitzeln und schneiden. Zwischen dieser Arbeit unter freiem Himmel treiben sich Bonzen-Bettler (für Klöster), Kunststückmacher aller Art, Köche mit Kuchen und Speisen, Tabaks-, Schnupftabaks- und Opiumhändler, Geldverleiher, Buchhändler und Papierlaternen-Höker umher.

Diese Nordseite der Stadt gehörte früher ausschließlich dem Militair, das aber mit der Zeit dem Handwerker- und Handelsvolke Platz machte. Jetzt sind die 80,000 tatarischen Truppen Pekings in verschiedene Districte oder „Banner“ von verschiedenen Farben vertheilt.

Auch gibt es eine „Bürgerwehr“ oder Nationalgarde, Siang-dschung, welche aber, ganz wie bei uns, eigentlich blos die Nachtwächter ersetzt und des Nachts durch die Straßen patrouilliren muß. Vom Militair sind die eigentlichen Chinesen ausgeschlossen. Das Militair ist ein Privilegium der Tataren, die vor mehr als zwei Jahrhunderten China eroberten. Die Südstadt gehört den Civil-Chinesen, in welche keine Soldaten oder Staatsbeamte ohne Erlaubniß gehen dürfen. Deshalb sieht’s in dieser eigentlichen militair- und beamtenlosen Südstadt auch lustiger und heiterer aus, als je im Norden. Hier, besonders in den Straßen Ta-tschalar und San-yeou-keou sieht’s aus, als könnten die Chinesen nichts weiter, als sich den ganzen Tag auf das Höchste amüsiren, und dazu allerhand Delicatessen (darunter delicat zubereitete Mäuse, Ratten und Hunde) genießen. Man findet hier die reizendsten und großartigsten Blumen- und Fruchthandlungen. Eine andere Hauptstraße, Vaï-lo-tsching, gehört fast ausschließlich den Künstlern, Schauspielern, Musikern, Taschenspielern, Schlangenbeschwörern und Rhapsoden, die, wie einst Homer in Griechenland, den Leuten auf den Straßen ihre eigenen und anderer Poeten Schöpfungen mit Instrumentalbegleitung vorsingen. Dahinter der Richtplatz, wo die schweren Verbrecher allemal im Herbste hübsch mit einander aus freier Hand geköpft werden. Nur politische Verbrecher können auch im Frühling wie im Sommer und Winter geköpft werden. Der Henker ist blutroth gekleidet, hat aber eine weiße Schürze vor und eine lange, gerade in die Höhe stehende Feder auf der rothen Mütze. Die zum Tode Verurtheilten werden eines schönen Octobermorgens auf den Richtplatz geführt, begleitet von Polizei, einem kaiserlichen Beamten und dem Henker. Der Beamte hat das Todesurtheil für Jeden, vom Kaiser eigenhändig untersiegelt, bei sich; er liest eines nach dem andern vor. So wie eins abgelesen ist, ergreift der Henker den „Verlesenen“, bringt ihn auf die Kniee, beugt ihm den Kopf herunter und schlägt ihn ab, ehe der Gebogene daran denkt, sich wieder aufzurichten. Die Andern sehen zu, bis die Reihe auch an sie kommt.

Aus Vaï-lo-tsching kommen wir in die Straße der Juweliere und Edelsteinschleifer, welche in die Straße der Theater führt. Wenigstens findet man hier sechs Tempel der dramatischen Kunst täglich von 12 Uhr Mittags bis 12 Uhr Nachts offen und activ, so daß die Leute 12 Stunden hinter einander immerwährend spielen sehen können, notabene, ohne etwas dafür zu bezahlen. Nur besondere Sitzplätze und Logen sind nicht unentgeltlich zugänglich. Aber das Parterre unten ist frei für Jedermann, der das Gedränge und den Geruch nicht scheut, und den Zopf vorher wie ein Halstuch umbindet, damit er wenigstens nicht im Gedränge leide.

Eine große Rolle spielen die Tempel, von denen aber bis jetzt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_618.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)