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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

schöne, heftige und liebevolle Mädchen. Ich erkannte ihre Stimme bei dem ersten Laut, wie leise sie auch sprach. Sie war runder, voller geworden; sie war aber frisch und glockenrein geblieben, und sie flüsterte mit derselben Innigkeit zu dem jungen Manne, mit welcher sie früher zu ihm gesagt hatte:

„Komm, Karl, weine nicht.“

Damals waren sie Beide Kinder gewesen, auch er noch, wie kränklich hoch er auch emporgeschossen war. Als Kinder hatten sie in dem Versteck hinter der dichten Taxushecke gesessen. Sie waren heute keine Kinder mehr. Er mußte drei- bis vierundzwanzig, sie neunzehn bis zwanzig Jahre zählen. Und sie waren in einem finsteren Versteck beisammen. Sie waren aber auch wieder nicht glücklich. Sehen konnte ich diesmal ihren Schmerz nicht; aber hören sollte ich ihn desto deutlicher.

„Und er war lange hier, sagst Du?“ hörte ich zuerst die Stimme des jungen Menschen sprechen.

„Ueber eine halbe Stunde,“ antwortete die Stimme des jungen Mädchens.

„Und ganz allein mit ihm?“

„Ganz allein. Ich mußte hinausgehen. Hinter mir verschloß er die Thür. Mir wurde so angst; er sah so schrecklich, so entsetzlich aus. Ich fürchtete ein Unglück, und wollte nicht gehen, aber ich mußte.“

Von wem sprach sie? Von dem Schließer, antwortete es in meinem Innern. Es war lächerlich, aber es war auch so natürlich. Ich hatte ja fast den ganzen Tag nur an ihn denken müssen. Ich mußte horchen, weiter horchen, wie unangenehm es mir war. Ich stand wie gebannt; ich konnte nicht rückwärts, nicht vorwärts.

Der junge Mensch fuhr fort zu fragen:

„Und Du hast kein Wort von dem verstanden, was sie mit einander sprachen?“

„Kein Wort. Ich war draußen an der Thür stehen geblieben und lauschte, aber ich verstand nichts. Nur einmal kam es mir vor, als wenn mein Vater ihm etwas beföhle. Er weigerte sich aber, es zu thun.“

„Und Dein Vater darauf?“

„Er schien ihm noch einmal zu befehlen, strenger. Aber aus dem Tone, mit dem er meinem Vater antwortete, schloß ich, daß er bei seiner Weigerung blieb.“

„Das Alles war schon heute Morgen?“

„Heute Morgen gegen zehn Uhr.“

„Um die Zeit war er mit dem neuen Assessor aus den Gefängnissen gekommen.“

Ich hatte also Recht gehabt, sie sprachen wirklich von dem Schließer. Martin Kraus war sofort, auf der Stelle, nachdem er von mir sich hatte trennen können, zu dem Amtmann geeilt. Der auf den Tod Kranke hatte über eine halbe Stunde lang mit ihm gesprochen. Beide hatten eine geheime Unterredung mit einander gehabt. Ich mußte weiter horchen. Das Mädchen fuhr fort:

„In den Gefängnissen mußte etwas vorgefallen sein, weil er so verstört ankam. Ich entsetzte mich vor seinem Anblicke.“

„Es war damals nichts vorgefallen,“ erwiderte der Schreiber. „Aber vorher, nachher.“

„Und was, Karl?“

„Nichts, nichts!“

„Du willst es mir verschweigen, Karl!“

„Nichts. Ich weiß nichts.“

„Karl, ich höre an dem Tone Deiner Stimme, daß Du etwas weißt, was Du mir verhehlen willst.“

„Das hast Du schon seit Jahren zu mir gesagt. Ich konnte Dir nur immer sagen, daß ich nichts wußte.“

„Und schon seit Jahren, Karl, konnte ich Dir das nicht glauben. Seit Jahren? Seit meiner Kindheit schon, so lange ich denken kann, habe ich Dir immer angesehen, daß Du etwas auf dem Herzen hattest, etwas recht Schweres, ein schreckliches Geheimniß. Wie viele hundert Male, wenn ich Dich träumend oder weinend sitzen sah, mußte ich Dich fragen, was Dir fehle, was Dir das Herz drücke. Wie oft bin ich Dir, wenn ich des Abends, noch ganz spät, Dich plötzlich fortschleichen sah, nachgefolgt – Du warest in den Garten gegangen, durch die Taxushecke auf den Kirchhof gekrochen, gingst auf dem Kirchhof zwischen den Dornen und den Gräbern herum, und horchtest und suchtest, und ich mußte durch die Hecke hinter Dir herkriechen, und an Dich heran treten, und Deine Hand nehmen und Dich fragen, wonach Du dort horchtest, was Du in der Nacht zwischen den Gräbern suchtest. Aber immer sagtest Du: es ist nichts. Ich habe nur so traurige Gedanken, die mich quälen. Ich muß allein sein, dann wird mir wieder besser. – Einmal, als wir auch wieder am späten Abend auf dem Kirchhofe waren, und plötzlich unten in der Erde das sonderbare, schreckliche Stöhnen hörten, und ich mich vor Angst an Dich drückte, und Du mich von Dir stießest, und auf die Erde niedersankest und laut schluchztest, das eine Mal wolltest Du mir sagen, was Dir das Herz abdrückte. „Komm!“ riefst Du auf einmal. „Komm und höre diese Töne, und dann höre eine Geschichte, die ich Dir erzählen will.“ – In dem Augenblicke stand der finstere Mensch hinter uns, und schrie uns an, was wir da machten, er wollte es dem Vater anzeigen, daß wir uns in der Nacht so umher trieben. Wir waren noch Kinder und fürchteten uns vor ihm, und liefen auf verschiedenen Wegen in das Haus zurück. Und nachher, als ich Dich nach der Geschichte fragte, die Du mir hattest erzählen wollen, hattest Du nur wieder die alte Antwort, Du wissest nichts, Du seiest durch einfältige Träume aufgeregt gewesen, was wir auf dem Kirchhofe gehört hätten, sei wohl ein Thier gewesen. Ich glaubte Dir schon damals nicht. Aber Du bliebst bei solchen Antworten trotz alles meines Unglaubens, aller meiner Bitten, aller meiner Thränen. So hast Du Jahre lang, wohl über zehn Jahre lang, mich fortwährend getäuscht. Getäuscht, Karl. Denn Du weißt wohl etwas! Dich drückt ein schweres Geheimniß. Theile es mir mit, jetzt, jetzt, in den letzten Stunden vor dem Tode meines Vaters. Denn, Karl, eine entsetzliche Ahnung hat mir manchmal gesagt, daß Dein Geheimniß meinen Vater betreffe, und daß Du es mir darum nicht verrathen wolltest. Und jetzt muß mein Vater sterben. Ich weiß es, und auch er weiß es. Sage es mir, Karl, was Du auf dem Herzen hast. Vielleicht kann ich die letzten Stunden des armen Vaters beruhigen, wenn ich es weiß. Er schien ohnehin so sonderbar, so schwer unruhig zu sein. Besonders seitdem heute Morgen der Schließer von ihm gegangen war. Sage es mir, sprich endlich, Karl.“

Sie schwieg. Ihre schöne Stimme hatte so innig, so traurig, so bittend, so flehend gesprochen. Sie hatte mir, dem Fremden, mit ihren flehenden Schmerzenstönen tief das Herz ergriffen. Wie mußte sie es dem jungen Manne zerreißen, der in einer so nahen, engen Verbindung mit ihr stand! Konnte er ihr widerstehen?

Ich halte schon lange gehört, wie während ihrer Worte sein Athem schwerer und kürzer wurde. Ich glaubte zu sehen, wie ungestüm seine kranke Brust wogte. Aber sein Sinn war fest geblieben. Es war ein edler Sinn.

„Rosa, meine liebe Rosa,“ sagte er, „ich beschwöre Dich, dringe nicht weiter in mich, nur heute nicht. Glaube mir, was mich quält und ängstigt, sind meist Träume und Einbildungen, zu denen mir aller gewisse Grund fehlt. Es kann etwas Wirkliches für sie da sein. Aber ich weiß es noch nicht. Ich habe es in all den Jahren nicht ermitteln können. Ich weiß es heute noch nicht. Wie könnte ich mit meinen leeren Ahnungen auch Dir das Herz beschweren, unglücklich machen? Ist aber etwas Wirkliches da, Rosa, dann fürchte ich noch heute Nacht etwas Schreckliches, und dann kann es auch Dir nicht länger verborgen bleiben.“

„Und Du willst es mir nicht sagen, Karl?“

„Ich kann nicht.“

„Du bist grausam.“

„Grausam?“ rief schmerzlich der junge Mann. „O, Rosa, wenn Du wüßtest –! Aber erzähle mir weiter. Sahest Du den Schließer von Deinem Vater fortgehen?“

„Ich sah ihn.“

„Und wie war sein Aussehen?“

„Finster und in sich gekehrt, wie immer.“

„Wie fandest Du Deinen Vater?“

„Ich sagte es Dir schon, ich fand ihn unruhiger. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben. Er schien es aussprechen zu müssen. Er richtete sich auf, dann sah er mich an, so sonderbar. Auf einmal legte er sich wieder zurück. Das that er oftmals so.“

„Er sagte Dir nichts?“

„Kein Wort.“

„Rosa, ich muß jetzt gehen. Versprichst Du mir Eins?“

„Was könnte ich Dir abschlagen, Karl?“

„Bleibe mir immer gut, bleibe immer meine Freundin.“

„Wie könnte ich anders werden? Aber wie kommst Du zu der Bitte?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_610.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)