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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Person verborgen gehalten werde; daß der Amtmann und der Schließer darum wissen; aber auch nur diese Beiden; daß auch nur diese Beiden darum wissen dürften, daß ein sehr wichtiger Grund vorliegen müsse, das Geheimniß zu bewahren, wahrscheinlich zugleich ein neues Verbrechen zu dem des Gefangenen, wenn dieser überhaupt ein Verbrechen begangen hatte.

Beide Beamte wußten aber auch, daß ich eine Ahnung von dem Geheimnisse hatte. Ich hatte sogar schon einmal den Versuch gemacht, meine Ahnung zur Gewißheit zu erheben. Ich hatte es damals aufgeben müssen; mir hatte jedes Mittel dazu gefehlt.

Heute, wenn das Geheimniß noch bestand, wie leicht konnte ich als Vorgesetzter des Amtes alle Mittel dazu mir verschaffen, wenn diese nicht schon vor meiner Ankunft beseitigt waren oder schnell nach meiner Ankunft beseitigt wurden! Und daß das Geheimniß noch bestand, daß der Gefangene – wie ich nun einmal meinte – noch immer in seiner verborgenen Haft war, darüber hatte das Erschrecken des Schließers mir keinen Zweifel gelassen.

Man hatte aber auch vor meinem Eintreffen schwerlich an Beseitigung jener Mittel denken mögen.

Der Amtmann lebte noch. Daß das Ministerium einen fremden Beamten zu seiner Stellvertretung schicken werde, daran hatte Niemand gedacht. Wäre man aber auch darauf vorbereitet gewesen, so hatte dies wenig zu sagen; denn wie außer dem Amtmann und dem Schließer kein anderer Beamter des Amtes das Geheimniß nur geahnt hatte, so konnte auch ein neuer Beamter nicht gefürchtet werden, der nicht schon einen Verdacht mitbrachte.

Das war einzig und allein ich, und ich war völlig unerwartet gekommen.

Freilich, auf desto mehr Eifer und Eile zur Verbergung des Geheimnisses seit meiner Ankunft mußte ich rechnen. Aber der Amtmann lag auf den Tod krank; nur der Schließer allein konnte mithin handeln. Er war indeß den ganzen Tag beschäftigt gewesen und hatte sich überdies immer beobachtet wissen müssen. Meine Anwesenheit hatte sämmtliche Beamte fortwährend in den Gebäuden zurückgehalten; selbst Neugierige hatten sich eingefunden. So hatte er am Tage schwerlich Zeit und Gelegenheit gehabt; erst der Abend konnte ihm diese bringen, und er mußte sie ihm auch bringen; er mußte dann aber auch mir Licht bringen.

So hatte ich combiniren müssen schon während der vielen Geschäfte, die mit der Uebernahme meines Amtes verbunden waren; so mußte ich nach deren Beendigung combiniren.

Aber welchen Weg sollte ich einschlagen, um zu dem Lichte zu gelangen? Mir standen mehrere Wege zu Gebote.

Der erste war, dem Schließer Alles, was ich wußte, meinen ganzen Verdacht geradehin auf den Kopf zuzusagen und ihn zur sofortigen Enthüllung der Wahrheit und Nachweisung des Gefangenen aufzufordern, für den Fall der Weigerung ihm die strengste Nachsuchung und, bis diese ein Resultat geliefert hätte, seine Einstellung in seinen amtlichen Functionen anzudrohen; dieser Weg war der geradeste. Es war von ihm am sichersten ein Resultat zu erwarten, schon darum, weil bei einer Entfernung des Schließers aus seinen Amtsverrichtungen und aus dem Amte der verborgene Gefangene nothwendig dem Verhungern ausgesetzt war und sein Tod im Falle einer Entdeckung ihm, dem Schließer, als einem Mörder zur Last fiel. Zu einem Morde hielt ich ihn nicht fähig. Allein das Alles setzte voraus, daß wirklich ein verborgener Gefangener da war, und dafür hatte ich keinen einzigen tatsächlichen Anhalt, nichts als persönliche Vermuthungen. Wie leicht konnten diese mich täuschen! Und hatten sie mich getäuscht, so hätte ich mich auf die allereinfältigste Weise von der Welt lächerlich gemacht und nicht nur meine Stellung in Z., sondern meine beamtliche Laufbahn für immer verdorben.

Die beiden zunächstfolgenden Wege beruhten auf der gemeinsamen Voraussetzung, daß der Schließer entweder den Aufenthaltsort des Gefangenen oder den Weg dahin noch verborgener als bisher machen oder den Gefangenen an einen noch verborgeneren Ort bringen werde. Beides konnte allerdings nur innerhalb des Umfanges der Amts- oder ehemaligen Klostergebäude geschehen. Ich konnte es aber in zweierlei Weise beobachten. Einerseits, indem ich selbst im Innern der Gebäude mich auf die Lauer stellte; aber es waren der Gebäude so viele, und es war mir völlig unbekannt, welches das rechte war. Andererseits konnte ich mich auf dem Kirchhofe aufstellen, um, wenn auch nicht wieder die Klagetöne jener Mitternacht, doch mindestens ein Geräusch der jedenfalls in der Nähe des Kirchhofes unter der Erde vorzunehmenden Arbeiten zu hören. Allein theils war es auch hier ungewiß, ob ich die richtige Gegend des Kirchhofs treffen werde, theils lief ich Gefahr, die ganze Nacht ohne Resultat auf dem Kirchhofe zubringen zu müssen, um dennoch vielleicht durch irgend einen Zufall entdeckt und zum Gespötte zu werden. Zudem waren beide Wege keine geraden, offenen.

Es blieb mir nur ein vierter Weg übrig. Er war zugleich ein offener und er konnte mich nicht compromittiren. Diesen schlug ich ein.

Es war schon dunkel, als meine Geschäfte beendigt waren.

Ich ließ den Schließer Martin Kraus zu mir rufen. Er kam mit seiner finsteren, verschlossenen, undurchdringlichen Miene und erwartete schweigend, was ich ihm befehlen würde.

Ich sagte ihm nichts auf den Kopf zu; ich wußte ja auch nichts. Aber ich sagte zu ihm:

„Schließer Kraus, Ihr seit der älteste Beamte hier am Amte?“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

„Wart Ihr schon vor dem Herrn Amtmann hier?“

„Zehn Jahre früher.“

„Und wie viele Jahre seit Ihr im Ganzen hier?“

„Sechsunddreißig,“

„Immer als Schließer?“

„Die ersten acht Jahre als Schließerknecht, dann als Schließer.“

„Ihr habt zur Zeit keinen Schließerknecht?“

„Ich versehe den Schließerposten allein, Mein Vorgänger war krank, darum hatte er einen Knecht zur Hülfe.“

„Ihr kennt die sämmtlichen Amtsgebäude hier wohl genau?“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

„Ich wünsche, sie ebenfalls kennen zu lernen. Ihr führt mich wohl umher?“

„Zu Befehl.“

„Jetzt gleich.“

„Zu Befehl.“

„Holt eine Laterne herbei, oder gleich zwei; wenn die eine ausgeht, bleibt die andere.“

„Zu Befehl.“

„Habt Ihr eine Blendlaterne?“

„Zu Befehl.“

„Bringt sie mit, und dazu eine größere.“

„Zu Befehl, Herr Assessor.“

Er ging.

„Zu Befehl! Zu Befehl, Herr Assessor!“ Ich hatte fast keine anderen Worte von ihm gehört. Sie waren immer mit derselben festen, unzerstörlichen Ruhe gesprochen. In dem finsteren, harten Gesichte hatte sich nichts bewegt.

Er war nach wenigen Minuten mit den zwei Laternen wieder da. Ich nahm die Blendlaterne.

„Wohin befehlen der Herr Assessor zuerst?“

Ich hatte mir schon am Tage während einer Mittagspause die Lage der sämmtlichen zu dem Amte gehörigen Gebäude wiederholt betrachtet. Sie bestanden aus dem ehemaligen eigentlichen Kloster. Es war ein langes, gerades Gebäude, in welchem sich jetzt die sämmtlichen Geschäftsbureaux und die Wohnungen der höheren Beamten befanden. Links von ihm, ein wenig vorstehend, lag das Gefangenhaus, isolirt und mit einer hohen Mauer umgeben. In ihm hatte zugleich der Schließer seine Dienstwohnung. Rechts vom Kloster, mit seiner ganzen Front quer vorspringend, befand sich ein großer, hoher Speicher; er diente blos zur Aufnahme und Aufbewahrung der an das Amt als Rentamt einzuliefernden Naturalien, Roggen, Weizen, Gerste und anderer ländlicher Producte. Er war unbewohnt. Rechts von ihm, wieder durch einen Zwischenraum von ungefähr zehn Schritten getrennt, stand die alte Klosterkirche; sie war verfallen und wurde zu nichts mehr gebraucht. Zu ihrer rechten Seite, nach einem Zwischenraume von ungefähr zwanzig Schritten, lag ein langes Gebäude, das zum Aufbewahren der Wirthschaftsvorräthe für die Beamten des Amtes und für die Gefangenen, zu Stallungen und Remisen diente und in dem zugleich die Unterbedienten des Amtes ihre Wohnungen hatten. Sämmtliche Gebäude lagen in einem länglichen Viereck; der Platz in ihrer Mitte war ein freier Hof. Durch diesen gelangte man in ein eisernes Gitterthor zur Rechten des Gefangenhauses, mithin so, daß, wenn man durch das Thor trat, man links zuerst das Gefangenhaus, dann das ehemalige Kloster, jetzt sogenannte Amthaus, darauf gerade vor sich den hohen Speicher, sodann rechts, gerade dem

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