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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

den Kirchhof führend. An dem Pförtchen standen zwei Personen. Die eine war ein junges Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren, ihrer Kleidung nach den höheren Ständen angehörend. Sie war das Bild eines schönen Kindes in jenem so nahe an der Jungfrau stehenden Alter. Aber die schönen, feinen, sanften Züge bedeckte Blässe und in den großen, blauen Augen lag unverkennbar eine tiefe Trauer. Bei ihr war ein junger Mensch. Seine Kleidung war sehr einfach, wenngleich nicht geradezu ärmlich. Er konnte sechzehn, vielleicht auch siebzehn Jahre zählen. Es war eine jener unglücklichen, langen, schmalen Gestalten mit eingefallener Brust, die in dem genannten Alter plötzlich in die Höhe geschossen sind, meist, um früh nach wenigen Jahren ineinander zu knicken und in das Grab zu sinken. Dem entsprach auch sein Gesicht. Es war fahl, die Augen waren hohl, der Blick war matt; über dem Ganzen lag überhaupt eine tiefe Melancholie. Kannte der junge Mensch das traurige Schicksal, das ihm bevorstand? Oder was machte ihn sonst so traurig?

Die beiden jungen Leute hatten sich tief in den Winkel gedrückt, als ich auf einmal vor ihnen stand. Sie erschraken sichtlich, als sie mich bemerkten; sie wurden verlegen und wußten nicht, wohin sie ihre Blicke wenden sollten. Ihr Erschrecken und ihre Verlegenheit that sich in einer Weise kund, daß es mir nicht zweifelhaft blieb, daß ich von ihnen schon vorher beobachtet worden sei, und gerade, daß sie mich beobachtet hatten, sollte ich nicht gewahr werden.

Auf einmal schoß es mir wie eine Ahnung, dann wie eine dunkle Erinnerung, dann wie ein klarer, fertiger Gedanke durch den Kopf: der junge Mensch war der lange, hagere Schatten, der in der vergangenen Nacht auf dem Kirchhofe an mir vorüber geflogen war. Auch er hatte mich erkannt und seiner Begleiterin von mir erzählt; Beide hatten mich mit ihren neugierigen Blicken verfolgt und, als ich mich ihnen nahete, sich eilig in den Winkel geflüchtet; sie erschraken auf den Tod, als ich sie dort plötzlich ertappte.

Woher mir das Alles gewiß war? Ich hatte in der Dunkelheit der Nacht keinen Zug eines Gesichtes wahrnehmen, sondern nur flüchtig einen Schatten sehen können. Wie konnte ich den jungen Menschen wieder erkennen? Ich wußte es nicht, aber daß er es war, stand fest in mir, fest, wie so manche Ueberzeugung, für die wir uns eben nur auf unseren Glauben berufen können. Es ist uns gewiß, wir können uns gar nicht denken, daß es möglicher Weise anders sein könne, und doch ist es eben nur unser Inneres, unser innerer Glaube, der es uns versichert.

Aber was hatte den jungen Menschen in der Nacht auf den Kirchhof geführt? Was hatte er dort gethan? Warum war er vor mir geflohen? Warum erschrak er auch jetzt so heftig, als er mich, als ich ihn wiedersah? Warum war auch das Mädchen an seiner Seite so erschrocken?

Wer waren sie? Warum waren sie Beide so traurig? Die bloße Neugierde macht sonst nicht traurig.

Ich war ohne Antwort auf meine Frage, wie ich in der Nacht vorher meine vielen Fragen mir nicht hatte beantworten können. Ich verließ Beide, denn ich konnte sie ohne Zudringlichkeit und Unhöflichkeit nicht anreden.

Ich ging zum Kloster oder „auf das Amt“, wie man im Städtchen gesagt hatte; dort mußte ich der Auflösung des Räthsels, oder der Räthsel, näher kommen. Kam sie mir nicht von selbst entgegen, so mußte ich sie suchen, gerades Weges oder auf Umwegen, wie es sich traf. Hatte ich nicht gar eine Verpflichtung, selbst eine beamtliche Verpflichtung dazu? Der Gedanke an die Gefängnisse des Amtes wollte mich nicht verlassen. Wie, wenn das Geheimniß mit einem Verbrechen, mit einem amtlichen Verbrechen zusammenhing? Ich machte meinen Plan des Forschens. Ich ließ mich bei dem Amtmann, dem Chef des Amtes, melden.

Wie war ein solcher Amtmann in jener Zeit ein ganz anderer Mann, als gegenwärtig der Director eines Gerichtes! Er war wie ein Souverain, wie ein Autokrat in seinem Amtssprengel. Justiz und Verwaltung waren verbunden, aber nur erst in seinen Händen; die Behörden über ihm waren andere für die Justiz, andere für die Verwaltung. So konnte jeder seiner Vorgesetzten ihn nur theilweise controliren. Eigentlich gar nicht; denn wo hörte in einer und derselben Hand die Verwaltung auf, wo fing die Justiz an? Zudem war damals die Zeit der amtlichen Controlen noch nicht; von oben controlirte daher in der That Niemand. Wer von oben nicht controlirt wurde, konnte nach unten hin thun und nicht thun, was er wollte. Was halfen Beschwerden von unten ohne Controle von oben? Und wer wollte sich auch über den gestrengen Amtmann beschweren, der, als Justizamtmann angeklagt, die Anklage zehn Mal als Rentamtmann entgelten ließ, und umgekehrt?

Der Amtmann in Z. war ein vornehmer, strenger Mann; das zeigten seine stolzen, ruhigen, strengen Mienen, seine sorgfältige Kleidung und seine gemessenen Bewegungen.

Ein paar Säckchen unter den Augen, eine feine Röthe auf den nicht mehr ganz festen Wangen, eine trotz aller Gemessenheit hervorblickende Leichtigkeit des Benehmens schienen aber auch anzuzeigen, daß er früher ein Lebemann gewesen war, daß er es zu Zeiten vielleicht noch jetzt war.

Er empfing mich mit jener verbindlichen und doch zurückhaltenden, etwas herablassenden Höflichkeit des gebildeten und humanen höheren Beamten, gegenüber dem jüngeren, dem er dadurch ausspricht: Du stehst zwar jetzt noch weit unter mir, allein du bist ein wissenschaftlich gebildeter Mensch, ganz wie ich, und du kannst künftig noch einmal mein College, gar mein Vorgesetzter werden.

Indeß diesem vornehmen, kalten und gemessenen Manne durfte ich nicht von einer Rundreise in meiner künftigen Domaine sprechen.

„Herr Amtmann,“ sagte ich zu ihm, „ich benutze die Gerichtsferien zur Befriedigung eines lange gehegten Wunsches. Die Theorie allein macht nicht einen praktischen Beamten. Einseitigkeit in der praktischen Ausbildung macht nur einen einseitigen Praktiker. Ich wünsche daher für meinen künftigen Beruf mich dadurch mehr auszubilden, daß ich soviel als möglich den Geschäftsgang der Behörden in allen Theilen unseres Landes kennen zu lernen suche. Hätten Sie die Güte, mir zu gestatten, daß ich mich von den geschäftlichen Einrichtungen informiren darf, die Sie an dem hiesigen Amte getroffen haben?“

Er ging mit großer Bereitwilligkeit auf meine Bitte ein, führte mich selbst durch die Geschäftszimmer und zeigte und erläuterte mir den Mechanismus, den er in den einzelnen Geschäftszweigen eingeführt hatte.

Ich fand überall eine strenge, musterhafte Ordnung. Wäre er Monate lang auf die umständlichste amtliche Geschäftsrevision eines Vorgesetzten vorbereitet gewesen, die Ordnung hätte nicht größer, nicht strenger sein können. Jedes Aktenstück war auf seinem Platze; kein Journal, keine Liste zeigte einen Rest an und jeder Beamte war in seiner Thätigkeit.

In dem Gange vor einer Terminstube stand ein Mensch, der zu warten schien.

„Was macht Ihr hier?“ redete ihn der Amtmann an.

„Ich habe einen Termin bei dem Herrn Assessor.“

„Auf welche Zeit seid Ihr bestellt?“

„Zu neun Uhr.“

„Es ist jetzt ein Viertel über neun.“

„Der Herr Assessor habe noch andere Geschäfte, wurde mir gesagt.“

Der Amtmann öffnete die Thür des Terminzimmers.

„Herr Assessor, Sie haben den Mann auf neun Uhr bestellt?“

Der Assessor wurde verlegen.

„Ich war gerade bei einer dringenden Arbeit, die ich nicht unterbrechen mochte.“

„Der Mann hat vielleicht eine noch dringendere Arbeit unterbrechen müssen, um zur bestimmten Zeit hier zu sein. Die Eingesessenen sind nicht um der Beamten willen, die Beamten sind um der Eingesessenen willen da.“

Der Assessor mußte auf der Stelle den Mann abfertigen.

In dem Cassenzimmer hatte der Rendant Streit mit einem Landmanne, Der Mann wollte eine Zahlung leisten und der Beamte wollte sie nicht annehmen, weil sie erst nach den Ferien fällig sei.

„Aber ich müßte dann nochmals einen Weg von drei Meilen machen,“ sagte der Landmann.

„Aber ich habe das Reglement für mich,“ sagte der Beamte.

In diesem Augenblicke trat der Amtmann ein.

„Sie nehmen die Zahlung an,“ befahl er kurz dem Rendanten. „Auf das Reglement darf der Beamte zu seiner Bequemlichkeit sich nie berufen.“

In einem anderen Zimmer verlangte ein Bauer von dem Beamten, sofort mit einer Klage gegen seinen Nachbar zu Protokoll vernommen zu werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_582.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)