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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

„schöne Auguste“ mit ihren grauen Runzeln und entsetzlichen Zahnlücken kokettirte zwar nicht mehr mit jungen Studenten, aber desto mehr mit dem lieben Gott.

Das fiel mir wieder ein bei der Bitte meiner Mutter, und ich mußte lächeln. Aber ich versprach ihr Alles, und reiste ab.

Ich kam nach Z. Es war im Monat August, als ich hinkam. Der Tag war sehr heiß gewesen und ich hatte ihn deshalb meist ausruhend zugebracht, in Dorf, in Wald, unter den dichten Haselnußhecken der Wiesen am Wege. Gegen Abend erst, als es kühler wurde, fing ich an, eigentlich zu marschiren.

Ich wollte den Tag noch bis Z. Nach den Erkundigungen, die ich einzog, konnte ich hingelangen, aber erst zwischen zehn und elf Uhr in der Nacht, und auch das nur, wenn ich tüchtig darauf los marschirte.

Ich marschirte desto langsamer, behaglicher. Was lag mir daran, wenn ich auch erst um Mitternacht ankam! Ich war desto länger in der schönen, frischen Nachtluft, in dem klaren Scheine des Vollmondes, der so malerisch über Flur und Wiese, über Wald und Berg, über Dörfer und Landhäuser sich ausbreitete. Und das Wirthshaus des Städtchens öffnete sich mir auch nach Mitternacht.

Ich wanderte mit voller Lust einsam durch die schöne Nacht auf breiter, bequemer Landstraße dahin. Aber als es zehn Uhr vorbei war, erhielt ich ungebetene Gesellschaft. Zwar zuerst nur in weiter Ferne und auch hoch genug über mir; allein sie kamen doch immer näher, und zuletzt drohten sie mir gar sehr frech. Dunkle Wolken zogen von allen Seiten am Himmel herauf, sie schienen Regen, ein Gewitter bringen zu wollen. Vorläufig freilich brachten sie noch nichts, sie drohten nur. Doch eins brachten sie, indem sie nahmen; sie nahmen das schöne klare Licht des Mondes weit und breit der Erde völlig fort, und hüllten Alles um mich her in dunkle, schwarze Nacht ein.

Ich setzte meinen Weg ruhig, nur mit etwas schnelleren Schritten fort. Vom Regen durchnäßt, vom Gewittersturm gejagt zu werden, ist eben kein großes Vergnügen, wenigstens nicht immer und nicht für Jedermann. Die Landstraße blieb breit und bequem; ich konnte mich nicht verirren, und ging ihr immer nach.

Es konnte bald Mitternacht sein. Ich sah links von der Straße einige Lichter. Ueber den Lichtern grenzten an dem dunklen Nachthimmel sich noch dunklere Umrisse von Gebäuden ab. Das mußte Z. sein. Die Zeit traf zu, in der ich die Stadt erreichen sollte. Auch die Lage. Ein Bauer hatte mir unterwegs gesagt, nahe vor dem Wege biege sich die Landstraße nach rechts, um dann, wieder links sich krümmend, in das Thor zu führen; ich brauche aber diesen Krümmungen nicht zu folgen; ein Fußweg führe links von der Straße in gerader Richtung nach dem Thore hin. Ihn solle ich einschlagen; ich könne nicht fehlen, er führe an dem alten Kloster vorbei, das man schon von Weitem sehe.

Von Weitem sah ich nun bei der großen Dunkelheit gar nichts, aber einen schmalen Fußweg, der links von der Straße abbog, entdeckte ich. Er ging nach jenen Lichtern hin. Ich schlug ihn ein; aber nach wenigen Minuten hatte ich ihn auf einmal verloren. Ich hatte nicht auf ihn geachtet, sondern nach den Lichtern gesucht, die mir ebenfalls so auf einmal und so sonderbar abhanden gekommen waren. Ueber dem Suchen nach ihnen entkam mir auch der Weg. Ich wollte umkehren, um ihn so wiederzufinden, da aber hatte ich in der Finsterniß Richtung und Alles verloren. Ich befand mich nur auf einem unebenen Boden zwischen wild durcheinander stehenden Stauden und Sträuchern. Und der Boden war so sonderbar uneben, Berg und Thal, Thal und Berg; wohin ich meinen Fuß setzte, stolperte ich. Und die Sträucher waren fast nur Dornen; wohin mein Körper sich wandte, waren meine Kleider festgepackt, wohin ich mit den Händen fühlte, wurden sie mir zerrissen.

Wo war ich denn?

Ich ging rechts und links, ich ging vorwärts und zurück, und konnte aus dem Labyrinthe von Thal und Berg, von Strauch und Dornen nicht heraus.

Auf einmal rissen über mir zwei Wolken auseinander, der Mond stand hell und klar zwischen ihnen, und beschien mich und den Ort, an dem ich mich befand. Zugleich wurde kaum dreißig Schritte von mir ein Ton laut, und zeigte es auch meinem Ohre an, wo ich war. Ich war mitten auf einem alten Kirchhofe, mitten zwischen alten, verfallenen, verwüsteten Gräbern. Dreißig Schritte von mir schlug auf einem Kirchthurme die Uhr zwölf.

Ah! Um Mitternacht allein, fremd, so auf einmal auf einem einsamen Kirchhofe, zwischen verfallenen, verwüsteten Gräbern!

Ich mußte doch unwillkürlich hinter mich blicken, ob nicht ein Grab sich geöffnet habe, und ein Gerippe hinter mir stehe, und drohend auf mich zuschreite. Aber es standen nur Dornen hinter mir, und wenn ich nicht zu ihnen kam, so kamen sie nicht zu mir. Und auch ein alter Schädel, in den mein Fuß sogar hineingetreten war, blieb ruhig liegen, und that mir nichts.

Ich wußte, wo ich war. Ich hatte den rechten Weg getroffen, den der Bauer mir angezeigt hatte, ich hatte ihn nur später wieder verloren und war, anstatt an dem Kirchhofe entlang zu gehen, mitten auf den Kirchhof gegangen. Ich war indeß vor dem Thore von Z., neben dem Kloster, an dem der rechte Weg vorbeiführte. Ich brauchte nur auf das Kloster zuzuschreiten, um den Weg wieder zu finden.

Der Thurm mit einem hohen Kirchendache stand dicht vor mir; gleich daneben dehnten einige andere hohe und lange Dächer sich aus. Es waren das Alles unzweifelhaft Klosterkirche und Klostergebäude. Sie lagen in dem hellen Mondscheine vor mir. Ich ging darauf zu; vorsichtig zwischen den Dornen und Gräbern und Schädeln und Knochen von allerlei Gestalten.

Allein schon nach wenigen Schritten stand ich auf einmal wieder in völliger Dunkelheit. Die Wolken hatten sich eigensinnig wieder zusammengefügt; kein Mondstrahl schien mehr zu mir hernieder, kein anderer Lichtstrahl schien zu mir herüber. Doch die Umrisse des Kirchthurms, auf dem es Mitternacht geschlagen hatte, konnte ich noch am Himmel erkennen. Zu ihm wollte ich mich hinarbeiten, über die Gräber, durch die Dornen. Ich begann die Arbeit; es war keine leichte in der tiefen Dunkelheit. Ich stolperte voran, ich riß mich los.

Plötzlich hörte ich ein sonderbares Stöhnen. Es kam unten aus der Erde, kaum dreißig Schritt von mir, fast unter mir. Es war leise, schwach, aber ich vernahm es deutlich. Die Haare standen mir fast zu Berge.

Was war das? Woher kam es? War es wirklich unter der Erde, oder kam es von der Oberfläche des Bodens?

Es hielt an, ich hörte es immer deutlich, an derselben Stelle, in denselben Tönen. Und es war nicht über, es war unter der Erde, nur wenige Schritte von mir. Sollte sich doch noch ein Grab neben mir öffnen? Sollte ein lebendes Wesen oder der Tod mir entgegentreten? Dem einsamen, fremden Wanderer, in der tiefdunklen Mitternachtsstunde?

Ich sah um mich, ob ich denn in der That einsam und allein sei, ob ich nicht ein Licht oder irgend ein anderes Zeichen der Nähe von Menschen entdecken könne? Die weitläufigen Klostergebäude, die so nahe vor mir lagen, mußten doch bewohnt sein. Die Thurmuhr hätte doch nicht Mitternacht schlagen können, wenn nicht ein lebendes menschliches Wesen sie aufgezogen hätte. Ich sah nichts. Kein einziges Licht aus allen den weitläufigen Gebäuden schimmerte mir entgegen.

Das Stöhnen in der Erde hielt an. Auf einmal hörte es auf, aber ein Klagen, ein Jammern trat an seine Stelle. Es drang ebenfalls nur schwach zu mir herauf.

Aber es war entsetzlich anzuhören. Ich wollte fortstürzen und konnte es nicht. Das ist eben das Bannen des geheimnißvollen Entsetzlichen, daß es uns ewig forttreibt und ewig festhält. Aber konnte ich auch unthätig, feige, blos dastehen und horchen? Ich wollte mich kund geben, wollte meine Hülfe anbieten, wenn hier überhaupt Hülfe geleistet werden konnte; da vernahm ich plötzlich einen andern, zwar unbestimmten Ton, aber es kam mir vor, als wenn eine Thür in alten Angeln knarre. Da unten in der Erde? Daher kam auch dieser Ton.

Jetzt hörte ich auch von dem Klagen und Jammern nichts mehr. Ich lauschte eine lange Zeit mit Anstrengung, vernahm aber keinen Ton, keinen Laut mehr.

Was hatte sich denn da in der alten Erde, unter den wüsten Gräbern zugetragen?

Es blieb still. Aber wie es still blieb, konnte ich mich nicht entfernen, ohne vorher einen Versuch gemacht zu haben, ob ich nichts entdecken könne. Warum hatte ich jetzt den Muth, da Alles still und vorbei war? – Vorbei? – Ich klopfte mit meinem Reisestocke auf die Erde. „Heda, heda!“ rief ich.

Ich bekam keine Antwort; es blieb still, wie vorher, unter mir, um mich. Ich wiederholte Klopfen und Rufen.

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