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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

sie ertragen, nicht in die beste Laune versetzt worden waren, und den neuen Aufenthalt deshalb mit Mißmuth sahen, steckten die Köpfe heraus, fragten ungeduldig, was es gebe, oder schimpften. Der Postillon wußte es selbst nicht. Das Geschirr war, so weit er fühlen konnte, in Ordnung; dicht vor den Füßen der scheuenden Pferde lag nichts Hinderndes. Weiter freilich konnte er nicht sehen. Er ließ sogar die Hand vom Zügel, und trat einige Schritte vor, konnte aber auch da nichts bemerken, was ihm erklärte, warum die Pferde nicht weiter gehen wollten. Er kehrte also wieder um, faßte den Zügel von Neuem und wollte versuchen, ob er seine Pferde weiter führen könnte. Da zerriß ein Blitz die schwarzen Wolken und beleuchtete die Scene. Der Kutscher entsetzte sich, denn er stand mit den Pferden nur wenige Ellen von einem Abgrunde auf der zerbrochenen Brücke über dem tief unten tosenden Flusse, in den die Pferde, wenn sie einige Schritte weiter gegangen wären, mit dem Wagen und den Reisenden hätten stürzen müssen.

Der Sturm hatte so gewaltig an der Brücke gezerrt, daß sie endlich zerrissen war. Ein zweihundert Fuß langes Stück derselben, in der Mitte, war abgebrochen und hinuntergestürzt in den Fluß.

Wir brauchen nicht zu schildern, mit wie raschen Worten er den ungeduldig fragenden Reisenden erzählte, was das Weiterfahren hindere, wie vorsichtig er seinen Wagen von den Pferden zurückschieben ließ, um wieder auf festen Boden zu kommen, und wie gern die Reisenden, die in so wunderbarer Weise dem Tode entgangen, zur nächsten Station zurückkehrten.

Die Brücke aber ist seitdem längst wieder ausgebessert worden; sie spannt sich leicht und schaukelnd von Neuem über den Strom, und der Verkehr geht wie sonst lebhaft darüber hin.




Eine Erinnerung an die Herzogin von Orleans.[1]

Das Glarner-Land ist nicht so berühmt, wie das lustige Appenzell oder das vielbesuchte Berner-Oberland, und doch ist es ein wunderschönes Land. Es besitzt einzelne Partien, wie man sie auf der ganzen Welt nirgends findet, einzelne Naturschönheiten, die ganz unvergleichlich sind. So ist z. B. unfern Glarus, zwischen Enneda und Ennetbühl, die Aussicht auf den Glärnisch, namentlich an einem schönen, stillen Abende, ein Genuß, den man nicht beschreiben kann. Der Berg steht da wie eine gewaltige Pyramide. So frank und frei hebt sich kein Berg von der Ebene ab. Er steht auf einem Fußgestelle, aber ringsum ist er frei. Der Mondschein fließt über die Pyramide herunter; sie wird immer heller, ragt immer ferner, immer lichter, immer geisterhafter in den Himmel hinein. Links glänzen in der Ferne weiße Schneegipfel, der Hausstock, der Selbsanft, der Tödi; sie sind vom Mond beleuchtet; rechts im Schatten des Glärnisch sind die dunkeln schwarzen Felsen des Wiggis. Siehe dieses an und dann sage: ob das nicht ein schönes Stück Schweizererde sei! Wieder ganz eigenthümliche Reize bietet das Klönthal dar, bewacht von den sieben hohen Glärnischen, die wie stolze Grenadiere in Reihe und Glied dicht hintereinander stehen neben dem schwärzlichen Klönthalersee. Hier wohnt eine Stille, eine Erhabenheit, eine Größe, die ganz wundersam zu dem menschlichen Gemüthe spricht. Prächtig ist auch das Linththal mit dem gleichnamigen Dorfe, das zwei Kirchen zieren, eine protestantische und eine katholische, eine weiße mit einem grauen Helme auf dem Thurme und eine graue mit braunrothem feinen Helme. Wenn am Sonntag in beiden Kirchen alle sechs Glocken läuten, so klingt das den „Kirchenstock“ hinauf, über die Wälder hinauf: Schöneres findest Du im ganzen Glarner-Lande nicht! Aber das Schönste ist, daß hier die protestantischen und katholischen Einwohner in der friedlichsten Harmonie beisammenwohnen. – Da es den Stöcken und Bergen des Glarner-Landes nicht an Schnee und Gletschern fehlt, so fehlt es auch nicht an Seen, Bächen und – für den Fremden die Hauptsache – an Wasserfällen. Diese letztern sind noch nicht illustrirt und colorirt in den Reisehandbüchern zu finden; auch hat man noch an keinem derselben ein industriöses Gasthaus gebaut und Vorrichtungen für ihre Beleuchtung getroffen, wie beim Staubbach im Berner Oberland: nein, die Wasserfälle des Glarner-Landes sind da und dort versteckt, verschmähen die Kunst und machen ihre Sprünge oft nach den seltsamsten Launen der jeweiligen Naturbeschaffenheit. Um so angenehmer wird aber der Fremde von diesen Wildfängen überrascht.

In diesem schönen Fleck Erde, im Dorfe Linththal, an einem Rande dieses schönen Winkels, am Fuße der Braunwaldberge, etwas erhöht, daß man Alles gut erblicken kann, liegt das Stachelbergerbad. Auf dem Balkone desselben hat man eine prachtvolle Aussicht in stille, ländliche, in große, gewaltige Natur. Hierher, und sehr wahrscheinlich nicht blos wegen der Quelle, sondern um in dieser schönen Natur ihr Herz zu erleichtern und zu stärken, kam im Spätsommer 1856 die Herzogin von Orleans mit ihren beiden Söhnen, dem Grafen von Paris und dem Herzog von Chartres.

Wir wollen nicht davon reden, wie sich die Herzogin im Bade einrichtete, Bergtouren machte und kleinere Spaziergänge, wie sie zeichnete, wenn ihr etwas über die Maßen gefiel u.s.w., sondern nur davon, wie sie mit der Armenpflege in Linththal in Conflict gerieth.

Damals nämlich ging man auch in Linththal damit um, den Gassenbettel abzuschaffen. Da war es denn natürlich, daß man sich auch an die Stachelberger Badegäste wandte. Es schien, diese könnten dem Bettel am besten abhelfen, wenn sie den Bettlern auf den Straßen nichts mehr gäben, und sie dürften das, weil sie ja alle Sonntage so schöne Gaben für die Armen zusammenlegten. Man setzte eine Schrift auf, worin das Alles ausführlich und gründlich behandelt wurde. Der Wirth im Stachelbergerbade war so freundlich und brachte diese Schrift auf einen Kartendeckel und hängte sie dann im Speisesaale auf, fast zuoberst bei der Tafel. Die Herzogin von Orleans nahm aber von diesem Täfelchen keine Notiz.

Schon voraus ging der Herzogin der Ruf, sie sei eine gar gute Frau mit den Armen. Wenn so ein Ruf in eine Gemeinde kommt, vernehmen es alle Leute und die Armen auch; die letzteren dachten an gar nichts Anderes mehr, als daß die Herzogin eine gute Frau sei. Als sie im Stachelbergerbade anlangte, gab sie den Befehl, daß man ihr keine Armen abweise! Die Armen im Linththal ließen sich das nicht zwei Mal sagen; sie sprachen bei der Herzogin tüchtig zu. So theilte sie denn innerhalb und außerhalb des Bades manchen schönen Fünffrankenthaler aus. Etwa einmal begegnete es ihr freilich auch, daß die Gabe nicht gerade an den Nothdürftigsten kam. Aber von der Liebe heißt es: unweises Lieben sei ein Zeichen echter Liebe. So möchte es auch beim Geben sein. Es ist wahr, wo man Alles abzirkelt und ausrechnet und sich über alle Verhältnisse rapportiren läßt, da ist man vor Mißgriffen viel sicherer; aber die Poesie des Gebens und viel von der Liebe geht verloren. Der Graf von Paris gab in die Spinnerei von Linththal auch hundert Franken zum Austheilen. Da waren nützliche Menschen, die meinten, das sei nicht ganz klug gewesen von dem Grafen von Paris; er hätte sie in die Krankencasse der Fabrik geben sollen! Als ob ein Graf von Paris nicht auch einmal hundert Fränklein zum Vertrinken geben könnte! – Die Herzogin von Orleans gab aber den Armen nicht nur so zum Fenster hinaus, wie man etwa zur Belustigung Geld unter Knaben wirft. Nein, zur Belustigung that diese Frau nichts. Die arme Frau, von der weiter unten die Rede sein wird, sagte dem Schreiber dieser Zeilen: die Herzogin sei stets sehr ernst gewesen; da habe man nie ein Lächeln gesehen. Sie ging auch selber zu den Armen. Es kommen viele Frauen in das Stachelbergerbad und sind keine Herzoginnen, aber was die Herzogin von Orleans that, thaten sie nicht.

Die Herzogin von Orleans ging einst durch das Ennetlinth und gewahrte da auf einer Bank vor dem Hause sitzend oder vielmehr zusammenkauernd ein armes, altes Mütterchen, das schon seit fünf Jahren von der Gliedersucht geplagt ist und weder stehen noch gehen kann, sondern überall getragen werden muß. Sie trat zu ihr, fragte sie nach ihren Umständen und sah diese zusammengezogenen Hände und die mageren Arme an. Sie fragte, ob sie Niemand habe zur Hülfe und Unterstützung. Da sagten ihre Nachbarsleute, die hinzukamen, sie habe noch einen alten,

  1. Durch das Testament der Herzogin von Orleans, welches jetzt durch alle Zeitungen läuft, werden wir wieder an die Vortrefflichkeit dieser hohen Dame erinnert, die ihr Unglück mit so vieler Würde und sittlichem Ernste trug. Wie diese Frau, deren ganzes Leben nur aus einer Kette edler Handlungen bestand, zu geben und zu helfen verstand, davon gibt auch obige Erinnerung wieder ein schönes Zeugniß.
    D. Redact.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_557.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)