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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

minder sehnsüchtig erwartet, als die gleichfalls nur kurze und heiß ersehnte Zeit, wenn die Schnepfe zieht. Derselbe Ton, nur feiner gehalten, führt auch oft das alte Reh in der Einbildung, das Kälbchen rufe, herbei; doch kann natürlich hier von Schießen keine Rede sein. Wiederholt sich nun Ende November diese Brunft, diesmal, wie bemerkt, die wirkliche, so verliert sonderbarer Weise gerade um diese Zeit der Rehbock das Gehörn,[1] das erst im Mai wieder ausgewachsen ist, ein gewiß sehr auffallender Umstand, da jedes Thier zur Zeit der Begattung nicht nur sein schönstes Kleid, sondern auch alle Zeichen der Mannheit entwickelt besitzt, das Gehörn beim Rehbock aber eben so entschieden seine männliche Zierde, als seine Wehre gegen Nebenbuhler und Neider ist, gegen welche er sie in der falschen Brunft recht gut zu gebrauchen versteht. Dieser Punkt wurde denn auch von der Partei, welche die Augustbrunft für die wahre hielt, stets in die Wagschale geworfen, und allerdings war er nicht ungewichtig. Dennoch ist die von ihm hergeleitete Meinung eine irrige. Wer vermag die Zwecke der geheimnißvoll waltenden Natur zu ergründen, die hier eine Ausnahme von der Regel macht? Bei der wahren Brunft vergißt auch das Mutterreh die Gattenpflicht nicht über der Mutterliebe; sind ihre Kälbchen doch nun schon selbstständiger. Gleicher Weise bleibt nun der Bock den ganzen Winter über bei seiner Auserwählten, von der er sich erst wieder trennt, wenn das Reh instinctartig mehr die Nähe des Menschen aufsucht, um unter dessen mittelbarem Schutze sein Wochenbett zu halten, und dabei von Raubthieren, die ja stets Ursache haben, den Herrn der Schöpfung zu fliehen, weniger gefährdet zu sein.[2]

So leben diese friedfertigen, harmlosen Thiere in Wald und Flur, Abends aus den Dickichten und Stangenhölzern, in welchen letzteren sie sich den Tag über gern aufhalten, herausziehend, um auf die Gehaue und Wiesen, oder, ist’s im Frühjahr, auf die Saaten zu treten. Im Hochsommer bleiben sie am liebsten in den wogenden Saatfeldern, welche sie mehr vor Ungeziefer schützen, als der Wald. Freilich bringen sie da dem Landmanne durch Niedertreten nicht unerheblichen Schaden. Aber nicht das ganze Jahr feiern sie blos ein Dolce far niente; denn auch sie werden von September bis Ende Februar, in vielen Gegenden das ganze Jahr, theils auf dem Anstande, auf dem Pirschgange oder beim Blatten geschossen, theils mit dem Dachshunde aufgestöbert und im Winter getrieben und dabei erlegt. Nach echter Waidmannsart gilt dies allerdings nur dem Bock oder doch nur einem gelten Reh;[3] allein seit dem Jahre 1848 ist ein wahrer Vertilgungskrieg auch gegen diese, allerdings sehr schmackhafte Wildgattung eingetreten und wer irgend zu jagen berechtigt ist, schießt Reh, Schmalreh und Kälbchen ohne Schonung todt, sich mit dem Grundsatze tröstend: „Wenn ich selbst es nicht schieße, so schießt’s der Nachbar.“

Wir gönnen dem Jäger von Herzen die Freude einer vernünftigen Jagd auf Rehe, wie auf jedes andere Wild; denn wollte man aus lauter Zärtlichkeit für so reizende Geschöpfe niemals eins derselben tödten, so würden sie bald zur unerträglichen Plage werden. Darum, lieber Leser, bist Du nicht Jäger, erfreue Dich am schönen Anblicke des Wildes und Waldes, ohne dem Waidmanne die berechtigte Lust am Jagen zu verargen; bist Du aber selbst Jäger, so bewahre Dir die Fähigkeit des Genusses sinniger und denkender Anschauung der Natur mit ihrer lebendigen Schöpfung und bedenke, daß auch das Schönste auf Erden – warum sollte Dein Lieblingsvergnügen ausgenommen sein? – seine Beschränkung haben muß. Dir bleibt außer der Jagd noch viel Schönes übrig, und dies erkennend wirst Du ein waidgerechter und vortrefflicher Jäger sein können, ohne, wie man oft nicht mit Unrecht sagt, zum „rohen Handwerk“ zu gehören.




Eine deutsche Herculesarbeit vor dem englischen Parlamente.


England kann vor lauter „Ausland“ gar nicht mehr an sich selbst denken. Seit Jahren schon wurden „Reformen“ und sonstige innere Angelegenheiten bald wegen dieses, bald wegen jenes Streites mit irgend einer auswärtigen Macht abgewiesen. Diesen Sommer konnte man Indiens wegen gar nicht zu sich kommen, ohne daß deshalb Indien wieder ordentlich zu ihnen kam. Die Augiasställe zu Hause blieben liegen und der in Indien wird fortwährend mit noch mehr Blut und Leichen gefüllt. Aber einer dieser Ställe, der größte und stinkendste in der Welt, wollte sich heuer durchaus nicht wieder abweisen lassen. Er eroberte ganz London und durchdrang jede Mauer, jede Statue, jede goldene Malerei und jeden gothischen Spitzbogen des gigantischen Parlamentsgebäudes, die Nase jedes Parlamentsmitgliedes – der Themse-Augiasstall, in welchen sich seit Jahrhunderten alle Excremente der Metropolis entladen, ohne daß die zwei Mal täglich zurückkehrende Fluth diese furchtbare Düngermasse in’s Meer hinabführt. Die Themse spült diesen Unrath vor den Nasen der Bewohner und ganz dicht vor den Nasen der Parlamentsmitglieder vorbei stets offen auf und ab, hin und her.

Und als die heiße Junisonne dieses Jahres auf die offene Riesen-Cloake brannte, stank sie bis zum Himmel, „stank“ sie das ganze Parlamentsgebäude zum Hause „hinaus“, wie sich eine Zeitung in alter anglosächsischer Derbheit ausdrückte. Ganz London seufzte mit zugehaltenen Nasen zum Parlamente unten dicht an der Themse, „etwas zu thun.“ Das Parlament schrie im Ober- und Unterhause hinter großen, in Chlorwasser getauchten Vorhängen: „Thut etwas! Bitte, thut etwas! Wer erlöst uns von diesem Vater Themse, dessen Vater und Conservator der Lord-Mayor ist?“ Die Presse brachte alle Morgen frische Leitartikel mit Drohungen allgemeiner Pest, an der London schon vier Mal fast ganz ausgestorben sei. Die Times donnerte besonders erschütternd: „Wir haben uns selbst vernachlässigt! Unsere Sünden werden uns heimsuchen. Thut etwas gegen diesen Gestank! Wo ist der Hercules, der diesen Stall ausmiste?“

Die Weisesten und Mächtigsten im Lande nahmen jetzt ihren Witz zusammen und schrieben und sprachen über die Entstänkerung der Themse. Das Parlament wählte die Sachverständigsten in Stänkerungssachen aus seiner Mitte zu einem ununterbrochen sitzenden Ausschuß in Sachen der Themse gegen 3 Millionen Nasen, von denen die des Parlaments just am dichtesten dabei athmeten. So viel wurde bald als unzweifelhafte Thatsache parlamentarisch festgestellt, daß die Themse nicht nur ein Ding sei, was da sei, sondern auch in einem gewissen Geruch stehe, daß es Anspruch habe als der größte Augiasstall der Welt zu gelten. Diese Wahrheiten waren bald gefunden, aber wo blieb der Hercules? Viele erhoben sich und versprachen, für 10 Millionen Pfund die Themse binnen 10 Jahren zu reinigen und alle 80 großen Hauptcloaken-Ausflüsse hinunter in das Meer zu führen. Andere traten mit Plänen für ungeheuere Fluththore und Thürme auf, um den Themsegestank einzusperren, in die Thürme hinauf zu pumpen und dann anderswo wieder loszulassen, Aber dabei kam Alles heraus, nur nicht der Gestank aus der Themse. Diese Projecte erinnerten nur an Goethe’s Vers:

„Rührst Du den Quark auch noch so lang:
Nur unsern Nasen thust Du Zwang.“

Die Projecte gaben alle Aussicht, daß es für 10 Millionen Pfund in 10 Jahren nur noch ärger stinken werde. Es waren ihrer viele, aber kein Hercules darunter. Wo steckt Hercules?

Vor 45 Jahren wurde im fetten Mecklenburg einem Großvater geistlichen Standes ein sehr wilder Junge geboren, dem er Vater ward, da er keinen mehr hatte, als er geboren war. Großvater ließ den Jungen aufwachsen, ohne ihm den Rücken zu bläuen oder ihn sonst in seiner Wildheit zu brechen. So wurde der Junge stark und groß und lernte nichts und lief in die Welt als Mechaniker, Maschinenbauer, Mitglied des Freihandels-Vereins in Berlin, Laterna magica-Director von Brill und Siegmund u. s. w., um endlich von Hamburg nach London spedirt zu werden und sich jetzt als der verlangte Hercules dem Parlamente Großbritanniens vorstellen zu lassen. So stand er da vor dem Parlamente am 2.

  1. Gehörn: Geweih.
  2. Zur Satzzeit, das ist: zur Zeit, wenn das Wild, sowohl Hoch- als auch Rehwild, Junge bekommt, sucht es gern Dickichte, die an Wegen in der Nähe von Kohlenmeilern, Forsthäusern u. s. w. liegen, auf, weil an solchen von Raubthieren gemiedenen Stellen weniger Gefahr für das Junge droht.
  3. Geltes Reh: ein Reh, welches keine Jungen mehr bekommt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_444.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)