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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Die Weichselbrücke bei Dirschau.


Ein Wunderwerk der Baukunst, ein herrliches Zeugniß dafür, wie Großes Menschengeist und Menschenkraft zu schaffen vermag, ist die Weichselbrücke bei dem westpreußischen Städtchen Dirschau. Als nach vielfachem Deliberiren der Bau der Ostbahn, jenes großen Schienenweges, welcher die Metropole Preußens mit der entlegensten Provinz dieser Monarchie, Ostpreußen, verbindet, endlich fest beschlossen worden, da drängte sich die Frage in den Vordergrund und gab zu den ernstesten Erwägungen Veranlassung: „Wie kommen wir über die Weichsel?“

Diese durchschneidet nämlich die Provinz Preußen in ihrer ganzen Breite von Süden nach Norden, von der polnischen Grenze bis zum baltischen Meere. Eine Ueberbrückung der Weichsel erwies sich als unumgänglich nothwendig, weil die von einem nicht überbrückten Strome durchschnittene Eisenbahn einer durchschnittenen Pulsader geglichen haben würde. Gleichwohl stellten dieser Ueberbrückung – zumal an dem Punkte, wo die Bahn an den Strom anlief – sich so viele und große Schwierigkeiten entgegen, daß Laien wie Sachverständige in Menge an der Möglichkeit verzweifelten. Woher diese Zweifel? Die eigenthümliche Beschaffenheit der Weichsel begründete sie.

Die Weichselbrücke bei Dirschau.

Die Weichsel ist zwar nicht einer der größten Ströme Europa’s (sie steht in dieser Hinsicht nicht blos der Donau, dem Rhein und der Mehrzahl der russischen Hauptflüsse nach, sondern selbst der Elbe, indem der Lauf dieser 155, der der Weichsel aber nur 140 Meilen Länge beträgt), wohl aber der gefährlichste und am schwersten zu passirende. Fließt ein Strom von Norden nach Süden, wie beispielsweise die meisten schwedischen Flüsse, dann rollt sich im Frühlinge die Eisdecke, ganz von selber auf: die Wärme verzehrt Scholle auf Scholle, die Wasser fließen allmählich ab, der Eisgang geht ohne Gefahr für die Uferbewohner vorüber. Die Weichsel aber richtet ihren Lauf vom Süden nach dem Norden. Wenn in jenem die Frühlingssonne die Eisdecke und den Schnee plötzlich schmilzt, zerbrechen die herbeikommenden Wasser die Eisschollen und wälzen sie nicht etwa einem Meere oder einer See, sondern den nördlicheren Niederungen zu, die noch in völliger Winterruhe, von schneeiger Fessel gekettet, daliegen.

Dieses nun macht den Eisgang der Weichsel so gefährlich. Die im Strome treibenden Eisschollen häufen sich, wenn ihnen noch zu festes Eis sich entgegenstemmt, zu Bergen an, stopfen sich bis auf den Grund so fest und dicht, daß nur wenig Wasser hindurch fließen kann und der Fluß also von den Stopfungen ungemein anschwillt. Häufig wird nun wohl durch den Druck des Wassers das Hemmniß fortgeschoben und somit die Passage frei. Aber nicht selten auch tritt das Gegentheil ein. Dann wälzen sich die noch compact gebliebenen Eismassen und das aufgestaute Wasser gegen den Damm welcher die meist noch unter dem Weichselspiegel liegenden Niederungen schützt; dieser weicht und mit furchtbarer Gewalt stürzt der Strom in das niedriger liegende Land und reißt Alles mit sich, was ihm im Wege steht, dessen Loos dann Vernichtung, Graus und Schrecken ist. Häuser, Scheuern und Brücken werden zerstört, hier Aecker ausgewühlt, dort angeschwemmt, und über die ganze Landschaft wälzen sich, oft in Meilen-Breite, sechs, acht, zehn, ja noch mehr Fuß tief die Wogen hin und verwüsten Alles. Der Schaden, den ein solcher Durchbruch (in Westpreußen gewöhnlich „Grundbruch“ genannt) verursacht, ist sehr bedeutend. Außer den enormen Kosten der Zudämmung, den verwüsteten Gebäuden und Vorräthen, der verloren gegangenen Ernte, wird auch noch das (meist sehr fruchtbare) Land, welches dem Durchbruche zunächst liegt, mehrere Fuß hoch mit Sand bedeckt und so für lange Jahre hin uneinträglich gemacht.

Solch’ ein unbändiger und verheerender Strom nun ist die Weichsel. Daß demnach seine Ueberbrückung äußerst schwierig, liegt auf der Hand; doppelt schwierig aber unter den gegebenen Umständen, weil nämlich aus mercantilen und strategischen Rücksichten die Route über Dirschau und Marienburg gewählt wurde und gewählt werden mußte, und also nicht blos eine Ueberbrückung des Hauptarmes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_429.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)