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verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

die Stille, in der sich zwei zum Glück vor Allen berechtigte Wesen in unheilbar gewordener Gemüthsverwickelung gegenübersaßen. Unheimliche Vorzeichen, woran sich der gemeine Aberglaube hält, vermehrten die Beklemmung; die Möbel krachten hin und wieder gespenstisch und die obere Platte von Charlottens Schreibebureau zerbarst einmal schreiend, daß Heinrich entsetzt zusammenfuhr, während sie mit einem erzwungenen Scherz ihn zu beruhigen suchte.

Den einmal aufgetauchten Gedanken verfolgte von nun an Charlotte mit der ihr eigenen Willensstärke. Sie fühlte die Nothwendigkeit der That, von der sie sich einzig und allein Rettung für den Unglücklichen versprechen konnte. Durch ein gewaltsames Ereigniß sollte Stieglitz aus seinem dumpfen Hinbrüten aufgerüttelt werden, sie selbst wollte sein Arzt sein, aber in ihrer eigenen krankhaften Verblendung irrte sie sich in der Wahl des Mittels; auch sie war nicht mehr gesund, nicht so zurechnungsfähig, um den richtigen Weg zu seiner Heilung einzuschlagen. Seine Verwirrung und Reizbarkeit hatte sie angesteckt und ihren klaren Verstand getrübt. Der Tod schien ihr nur noch die einzige Hülfe zu sein und zwar ihr Tod, der dem kranken Manne seine Selbstständigkeit wiedergeben, ihn zu neuem Leben erwecken sollte.

Der alte Glaube an die versöhnende Kraft des „Menschenopfers“ war unbewußt in ihrer Seele aufgestanden, ein Glaube, welcher vielleicht mit ihren früheren religiösen Schwärmereien innig zusammenhing.

In der Fülle ihrer überschwänglichen Liebe wollte sie sich selbst zum Opfer bringen; sie war nicht Mutter; kinderlos blieb all’ ihr Denken und Fühlen nur auf den einen Punkt gerichtet, kein anderer Gegenstand zog sie davon ab; ihr Leben hatte nur so lange einen Werth für sie, als sie Heinrich damit nützen konnte; sie gab es hin, da ihr Tod nach ihrer Meinung ihn allein von dem Banne der Krankheit zu befreien vermochte. Dieser Entschluß war in ihr nach und nach zur Gewißheit geworden und sie ging an die Ausführung desselben mit ruhiger Besonnenheit, mit klarem Bewußtsein, das höchstens durch die Sophistik ihrer Liebe getrübt war. Sie rechnete noch einmal im Stillen mit sich ab und prüfte ihre bisherige Handlungsweise; sie konnte sich das Zeugniß geben, nichts für Heinrich unversucht gelassen, Alles gethan zu haben, was irgend erdenkbar, und dennoch fruchtlos!

Was blieb ihr nach all’ den Anstrengungen zu thun noch übrig, als für ihn zu sterben?

So kam der neunundzwanzigste December heran; Charlotte war zur That bereit, nachdem sie sich immer mehr darin bestärkt und vorbereitet hatte. Der Abschied von der Welt konnte ihr nicht schwer fallen, da sie nach und nach die irdischen Bande leise und unmerklich abgestreift. Ihr Geist schwebte bereits in einer höheren Welt, während sie noch zerstreut mit seltsam glänzenden Augen wie ein verklärter Geist auf dieser Erde herumwandelte. Heinrich war an diesem Tage abwechselnd wohler und dann wieder tief verstimmt, wie dies in der wunderlichen Natur seines Nervenleidens lag. Nach Tische kam eine Einladung zu der Ries’schen Quartettmusik für den Abend, die auch von ihm angenommen wurde. Von diesem Augenblick an war Charlotte plötzlich ernst und still. Sie sagte ihm noch nicht, daß sie ihn auf den Abend nicht in das Concert begleiten wollte.

Gegen Abend legte sie sich ermüdet auf das Sopha, sie bat ihn, allein oder in Begleitung eines in der Nähe wohnenden Freundes zu gehen, da sie der Ruhe bedürfe.

Er versprach, deshalb zeitiger zurückzukehren.

„Nein, Heinrich!“ sagte sie eindringlich. „Du mußt das Concert aushören! Versuch’ es wieder einmal, ob Du Musik mit Ruhe anhören kannst; besonders zwinge Dich, den aufregenden Beethoven wieder zu ertragen und zu bewältigen.“

Es lag ihr Alles daran, daß er nicht vor der Zeit, die sie zur Ausführung ihrer That bedurfte, wiederkäme.

„Hörst Du,“ fügte sie hinzu, „sei ruhig, mein Heinrich! Was soll denn nun noch aus Dir werden, da Alles mit Dir geschehen, was wir heilsam glaubten? Nur Resignation kann Dir helfen. Ruhig mußt Du werden, Dich in Dir selbst zusammenfassen! Man muß erst Alles aufopfern, um den Frieden und die Erlösung zu gewinnen. Ist das nicht auch die Bedeutung von dem Opfertode des Herrn?“

Sie drückte ihm die Hand; er küßte sie auf die Stirn und ging ohne jede Ahnung ihres Entschlusses. Kein Ton, kein Blick verrieth ihm ihre innere Bewegung, als sie so für immer von ihm Abschied nahm.

Sie war allein; draußen lag die öde Winternacht auf dem einsamen Schiffbauerdamme, wo sie wohnten. Wenn sie an’s Fenster trat, erblickte sie den Mond in schneidender Klarheit, die dunkle Spree und die gegenüberliegenden eingeschneiten Gärten und Häuser. Es war hell und kalt und ein leises Frösteln mochte sie wohl beim Anblick dieser melancholischen winterlichen Umgebung beschleichen. Nur das Dienstmädchen, welches ihr sehr ergeben war, verweilte in der Nähe; sie rief es, um ihm einige Auftrage zu ertheilen. Ihm war der besonders milde und freundliche Blick der Herrin aufgefallen, die, mit der Lampe in der Hand, vor ihr stand und sie verabschiedete.

Nur zwei Stunden hatte sie noch bis zur Rückkehr ihres Mannes Zeit; sie mußte sich beeilen, da sie noch viel zu thun hatte.

Sie legte mit rührender Sorgfalt das Geld für Heinrich heraus, das sie bisher immer in Verwahrung gehabt, und einige Sachen, die er zunächst brauchen konnte; dann setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb, während ihre Thränen leise fielen:

„Unglücklicher konntest Du nicht werden, Vielgeliebter! Wohl aber glücklicher im wahrhaften Unglück! In dem Unglücklichsein liegt oft ein wahrer Segen, er wird sicher über Dich kommen!!! Wir litten Beide ein Leiden, Du weißt es, wie ich in mir selber litt, nie komme ein Vorwurf über Dich, Du hast mich vielgeliebt! Es wird besser mit Dir werden, viel besser jetzt, warum? ich fühle es, ohne Worte dafür zu haben. Wir werden uns einst wieder begegnen, freier, gelöster! Du aber wirst Dich noch hier herausleben und mußt Dich noch tüchtig in der Welt herumtummeln. Grüße Alle, die ich liebte und die mich wieder liebten! Bis in alle Ewigkeit!
Deine Charlotte.
„Zeige Dich nicht schwach, sei ruhig und stark und groß!“

Diesen Brief, den sie absichtlich auf einen großen Bogen von starkem Papier geschrieben hatte, damit er nicht übersehen würde, legte sie zu dem Gelde in das Pult, wo sie in glücklicheren Tagen die ihm zugedachten Ueberraschungen, neckende Notizen und schalkhafte Erinnerungen zu bergen pflegte. Ihre Handschrift war in diesen letzten Zeilen fest und zeigte nur auffallend große Buchstaben. Einige Mal mußte sie heftig geweint haben, besonders waren die Worte „in der Welt herumtummeln“ am stärksten von ihren Thränen benetzt.

Jetzt warf sie vielleicht, von dem lauernden Dämon des Wahnsinns fortgerissen, den kleinen Pelzmantel und die Boa ab, welche sie gewöhnlich trug, und schleuderte sie an die Erde, wo sie in der Mitte der Stube gefunden wurden. Sie nahm das Licht, und eilte in ihre Schlafkammer mit dem Dolch, den sie als Braut für Stieglitz gekauft hatte.

Hier mußte ihre frühere Ruhe zurückgekehrt sein, wofür die besonnene Ausführung ihres Entschlusses ein klares Zeugniß gibt. Nicht in wilder Verzweiflung, mit ernstem Bewußtsein brachte sie sich selbst zum Opfer dar.

Sie stellte das Licht auf den Nachttisch und begann sich zu entkleiden, wusch sich erst, that ein reines, weißes Nachtkleid an und bedeckte das Haupt mit einem reinen, weißen Häubchen. So angethan, legte sie sich, wie sonst zum Schlummer, jetzt zum ewigen Schlaf in ihr Bett, und senkte hier mit furchtbar sicherer Hand den Dolch in das Herz. Sie behielt noch so viel Kraft und Ruhe, den Dolch aus der Wunde herauszuziehen und neben sich zu legen; dann deckte sie die rechte Hand auf die blutige Brust, mit der linken zog sie das weiße Betttuch bis an den Hals herauf.

So erwartete sie, das Haupt ruhig in die Kissen gedrückt, den nahen Tod; kein Schrei, kein Laut verrieth ihren Schmerz; endlich jedoch konnte sie das unwillkürliche Stöhnen der röchelnden Lungen nicht mit dem Aufgebote ihrer letzten Willenskraft überwinden. Das in der anstoßenden Küche verweilende Mädchen wurde aufmerksam; es rief und die Nachbarn eilten herbei. – Als die Thür geöffnet wurde, verhauchte Charlotte ihren letzten Seufzer. Sie lag in wunderbarer Milde da, einer Schlafenden gleich, in so ruhiger Haltung, ohne jede Spur des Todeskampfes, daß die Wunde als Ursache ihres Todes selbst von dem herbeigerufenen Arzte erst später entdeckt wurde. Die Wange war noch roth, die Hände leise heruntergeglitten, kaum einige Finger krampfhaft verzogen, nur um den Mund zeichnete sich ein scharfer, trüber Zug, der die Welt anzuklagen schien.

Eine halbe Stunde später kam Heinrich, nichts ahnend, aus dem Concert; die Musik hatte ihn heiterer gestimmt als sonst; er

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