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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

das Thier von einem unerklärlichen Drange veranlaßt, sich aus den obersten 2 oder 3 Umgängen zurückzuziehen und sie leer stehen zu lassen, indem es diesen leeren Raum durch Errichtung einer Querscheidewand abschließt, gewissermaßen vermauert.

Es ist gerade so, als wenn die Bewohner des obersten Stockes eines Hauses eine Treppe tiefer Wohnung nähmen, und dann die Treppe nach dem verlassenen obersten Stock hinter sich zumauerten. Wie ein unbewohnter Theil eines Hauses auch allmählich verfällt, so geschieht es, nur viel schneller, auch mit dem oberen Theile des Gehäuses unserer Vielfraßschnecke, aus dem sich das Thier herabgezogen hat: er verwittert und bricht ab. Fig. 7. zeigt uns ein noch lange nicht vollendetes Gehäuse, an welchem gleichwohl bereits eine Wohnungsveränderung stattgefunden hat und die obersten Umgänge abgebrochen sind. Nach einiger Zeit rückt das Thier abermals tiefer herab, vermauert wieder die verlassenen Umgänge und diese brechen wiederum ab. Dies geschieht mit jedem Gehäuse 3 bis 4 mal, und währenddem wird unten dasselbe in erweitertem Maßstabe fortgebaut, bis endlich zum Zeichen des Abschlusses des Gehäusebaues der Mündungsrand durch besonders reichliche Ablagerung von Schalensubstanz etwas verdickt und mit einer dünnen lippenartigen Wulst belegt wird (Fig. 2.) Ist dann das Gehäuse fertig, so ist es eben doch nur eine Ruine, die höchstens aus 4 oder 5 Umgängen besteht. Der letzte Abbruch ist nun an der breit abgestumpften Spitze durch die Vermauerung bezeichnet. Fig. 8. gibt uns davon ein vergrößertes Bild und es ist daran die nach Maßgabe des wendeltreppenartigen Raumes des Gehäuses spiral gedrehte Scheidewand mit einem Sternchen bezeichnet.

Unter vielen Hunderten von Exemplaren, die ich in Spanien und Frankreich lebend gesammelt und in Sammlungen gesehen habe, hatte nur eins nach Beendigung des Gehäusebaues noch 8 Umgänge oder Windungen, die übrigen nur 4 und 5, ja einige blos noch 3. Ohne dieses sonderbare freiwillige und mehrmalige Aufgeben eines Theiles des erbauten Hauses würde dieses 14 bis 15 Umgänge und Gestalt und Größe von Fig. 9. haben. Aber ein solches ist meines Wissens noch nie gefunden worden: diese Schneckenhäuser sind eben „Ruinen von Haus aus.“

E. A. Roßmäßler.     




Die Frau des Dichters.
(Schluß.)


In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an den berühmten Arzt Medicinalrath Stieglitz in Hannover, zu dem sie als nahem Anverwandten ihre Zuflucht nahm. Auf seinen Rath besuchte sie mit Heinrich das Bad Kissingen, ohne jedoch den gewünschten Erfolg zu haben. In der Rückreise begriffen, berührten sie Arolsen, wo Stieglitz geboren war und seine Mutter und Geschwister lebten, aber der Anblick der Heimath konnte ihn nicht erheitern und weckte nur trübe Erinnerungen. Die Medicin, von der sie sich Heilung versprach, wurde zum Gift für ihn; sein düsterer Geist saugte aus der sonnigsten Landschaft nur die verderblichen Dünste und schwarzen Nebel ein; er schien unrettbar den finstern Mächten verfallen.

Charlottens Muth war gebrochen; damals schien zum ersten Male der fürchterliche Entschluß in ihrer Seele dämmernd aufgestiegen zu sein, ihr Leben für den Geliebten zum Opfer zu bringen, mit ihrem eigenen Blute ihn zu erlösen.

„Der Dichter,“ sagte sie zu ihm, „ist wie eine Schlingpflanze. Mit ihm muß man in Eins verwachsen sein oder es ist keine Gegenseitigkeit. Daher kann nur der ihm Freund sein, der an seinem Schaffen und Werden entschieden Theil nimmt. Sobald dieser Freund nichts mehr von der Welt hat, wird er verkommen in sich, während der Dichter nothwendig fortschaffen, ausströmen, der Welt sich hingeben muß, nicht aber mehr dem Freunde. Meine Stellung zur Welt ist mein Leben für Dich. Darum könnte ich auch bei der tiefsten, innigsten Liebe nimmermehr mit Dir in einer Wüste allein leben, ohne zu verkommen, weil ich Dir da nichts mehr sein könnte, und das wäre das Einzige, was ich nicht ertragen würde. Dir muß ich wieder Alles sein, energisch, durchdringend. Darum kann ich ordentlich mit einem Heimweh auf Deine geistige Wiedergeburt hinblicken. Sie wird wiederkommen! gewiß, sie wird wiederkommen. Könnte ich nur, wie ich wollte, sie zu beschleunigen – und wär’ es durch einen Kaiserschnitt – aber wenn er mißlänge?!“

Ein anderes Mal äußerte sie zu Stieglitz:

„Du bist der einzige Mensch, gegen den ich ganz rückhaltlos offen bin; und dennoch hab’ ich ein Geheimniß vor Dir – es betrifft Dich selbst und wird einst vielleicht zu Deinem Besten sich entschleiern, wiewohl es etwas dunkel aussieht.“

In ihr Tagebuch schrieb sie in jener Zeit:

„Die Welt erscheint mir erst jetzt recht heiter, seit ich sie einmal ganz aufgegeben und nun darüberstehend sie betrachte und erhalte. Sie erscheint mir gleichwie im letzten schönen Abendroth, wie beim Sonnenuntergang sie verklärt daliegt.“

Vom Entschlusse bis zur That ist jedoch noch immer ein weiter und verschlungener Weg; der keimende Gedanke bedarf der Zeit zum Reifen; er liegt mit tausend andern verborgen in der Menschenbrust, bis der Augenblick ihn an das Licht zieht, ein ungeahnter Moment ihn zur rascheren Entwickelung treibt oder für immer vernichtet. Einem Saatfeld gleicht des Menschen Geist, von der Sonne beschienen, vom Thau und Regen des Himmels genährt; nicht jedes Korn geht auf, nicht jeder Halm trägt seine Frucht.

Es kamen wohl auch Tage, wo Charlotte sich neuen Hoffnungen hingab; denn das ist das Eigenthümliche dieser Krankheit, daß sie mit dem Anscheine der Genesung spielt und Stunden der vollkommenen Gesundheit mit verzweiflungsvoller Niedergeschlagenheit abwechseln. – Auf den Rath der Aerzte und Freunde hatte Stieglitz endlich seine amtliche Stellung aufgegeben, die Großmuth des Onkels in Petersburg schützte ihn vor jedem Mangel; aber diese Veränderung entsprach nicht den davon gehegten Erwartungen. Früher wurde Stieglitz durch seine Beschäftigung aus dem Hause geführt und zerstreut, jetzt waren die Gatten auf ein fortwährendes Beisammenleben angewiesen, das für Beide nicht wohlthätig sein konnte, ihn nur noch mißmuthiger machte und Charlotte zum Anhören seiner hypochondrischen Klagen nöthigte. Ihre Gesundheit wurde immer mehr angegriffen und die Aerzte verboten ihr, zu singen, um ihre leidende Brust zu schonen. Damit wurde ihr der letzte Trost geraubt, womit sie die finsteren Geister des Hauses zu beschwören pflegte.

Es waren traurige Tage, die sie von nun an in der Gesellschaft des kranken Mannes verlebte. Am achtzehnten December hatte Stieglitz einen Traum. Es war ihm, als versinke drüben im Flusse, in dessen Nähe seine Wohnung lag, das geliebte Weib; er stürzte ihr nach, schrie und weinte; streckte seine Arme nach ihr aus, um sie den Wellen zu entreißen, aber es war zu spät und Charlotte nicht mehr zu finden. – Als er erwachte und wußte, daß er nur geträumt, überkam ihn ein eigenes Gefühl. Er mußte unwillkürlich an manche ihr entfallene Mahnung denken und beschloß fortan, durch eigene Kraft sich aufzuraffen und die theure Frau durch seine Launen und krankhaften Stimmungen nicht länger zu quälen. Die Möglichkeit ihres Verlustes wies ihn auf seine eigene Energie an und er machte sich mit dem Gedanken vertraut, in edler Resignation seine verlorene Selbstständigkeit wiederzufinden. – Sein Wesen wurde ruhiger und gehaltener. Die wohlthätige Veränderung war Charlotten nicht entgangen und als sie nach dem Grunde forschte, nahm er keinen Anstand, den Traum der Nacht ihr mitzutheilen.

„So?“ sagte sie, gedankenvoll lächelnd. „Also das kann Dir helfen? Nur so ist es recht. Ja, ja, nur aus der Tiefe des Schmerzes, nur aus der echten Resignation kommt uns die rechte, die dauernde Kraft, die hohe Ruhe des Geistes, ohne die nichts wirklich Großes geschieht. Halte nur fest an Deinem Vorsatze und sie wird Dir werden.“

So bestärkte sie sich immer mehr in dem Entschlusse; er selbst gab ihr ohne sein Wissen die tödtende Waffe in die Hand. Sein Aufraffen zu erneuter Thätigkeit war ebenfalls nur vorübergehend, bald verfiel er wieder in jenen Zustand geistiger Lähmung, der keine gedeihliche Arbeit aufkommen ließ. Trostlos schleppten sich die Tage hin; am Abend saßen Beide in selbstgewählter Einsamkeit; nur selten ließ sich einer der alten Freunde sehen, verscheucht von der melancholischen Stimmung oder abgehalten von dem egoistischen Treiben der großen Stadt. Der einförmige Schlag der Uhr, die von der Kammer hereintönte, unterbrach mit schauerlichen Takten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_409.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)