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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Mir fiel der unheimliche Reiter ein, der an mir vorbeigeritten war. Der Fremde, den ich in der Wirthsstube traf, war es nicht. Dieser war ein Mann von mittler Statur, vielleicht einige dreißig Jahre alt, mit einem hübschen, feinen, blassen Gesichte. Das Gesicht hätte etwas Angenehmes gehabt, wenn nicht ein eigenthümlicher Zug um die ein wenig aufgeworfenen Lippen ihm einen zurückstoßenden Ausdruck verliehen hätte. Ich kann den Zug und den Ausdruck nicht näher beschreiben. Ich habe sie auch nicht oft in den menschlichen Gesichtern gesehen. Aber wo ich sie gesehen habe, sah ich ein schweres Verbrechen. Und nicht etwa blos der gefallene Mensch sprach sich darin aus, eine Natur vielmehr schien sich mir zu verrathen, die sich bewußt war, daß sie innerlich schon ausgestoßen sei aus der Gemeinschaft der Besseren, und nun Rache nehmen wollte, nehmen mußte für diese Ausstoßung, die fortan das Gute nicht mehr lieben konnte, die es dafür hassen, mit aller Kraft der Seele hassen wollte.

Das Nämliche schien im Hintergrunde der großen, dunkeln, melancholisch blickenden Augen des Mannes zu lauern.

Seinem Aeußern nach gehörte er übrigens dem mittlern Bürgerstande an. Er trug einen einfachen grauen Oberrock; eine blaue Tuchmütze und einen Stock, wie Bürgersleute ihn auf einer Reise über Land zu tragen pflegen, lagen neben ihm auf der Bank.

Ich hatte ihn anfangs nicht beachtet. Erst als die Frau von dem Gesindel an der Grenze sprach, hatte ich ihn plötzlich aufzucken sehen. Jetzt fiel er mir auf. Wie ich ihn genauer ansah, traf mich gleichzeitig ein scharfer Blick aus seinen melancholischen und doch so lauernden Augen. Sie stachen mißtrauisch nach mir hin, aber in dem Moment, in dem sie mir begegneten, senkten sie sich wie verwirrt, erschrocken zu Boden.

Ich hatte den Menschen nur prüfend angesehen, jenen plötzlich mir auffallenden Ausdruck studirend, wie sich der Criminalrichter den Inquisiten, den er zum ersten Male sieht, unwillkürlich prüfend und studirend betrachtet.

War er mit jenem erschreckenden Ausdrucke vor mir erschrocken? Und warum? Ich kannte ihn nicht; er konnte schwerlich mich kennen. Ich hatte ihn noch nie gesehen; er gewiß auch mich nicht. In irgend einer Beziehung zu mir konnte er gar nicht stehen. Hatte er eine Ahnung, daß er zu mir, dem ihm völlig Unbekannten, in so nahe und sein Schicksal so nahe berührende Beziehung treten werde?

Ich hatte ihn seitdem wiederholt in’s Auge fassen müssen. Jedesmal, wenn ich nach ihm hinschaute, bemerkte ich, wie sein Blick sich rasch vor dem meinigen niederschlug. Er hatte mich also angesehen, er hatte mich ansehen müssen, wenn ich nicht nach ihm sah. Er konnte mich nicht ansehen, wenn ich nach ihm sah.

Mir war in dem Gespräche mit der Wirthin der häßliche Reiter wieder eingefallen. Es lag nahe, daß ich mich nach ihm erkundigte.

„Ist hier nicht kurz vor mir Jemand zu Pferde eingetroffen?“ fragte ich die Frau.

Die Frau antwortete: „Nein.“

Aber der blasse Fremde hatte plötzlich, beinahe heftig, das Gesicht nach mir gewandt. Er sah mich so sonderbar an, als wenn der Reiter ihn angehe, und er von mir etwas zu erfahren hoffe.

„Es ist hier auch Niemand vorbeigeritten?“ fragte ich die Frau weiter.

„Ich habe keinen Menschen gesehen, auch kein Pferd gehört.“

Der Fremde horchte gespannt meinen Worten, wie denen der Wirthin; ich konnte es ihm ansehen, obwohl er sein Gesicht wieder halb von mir abgewandt hatte.

Ich setzte um so mehr meine Erkundigungen nach dem Reiter fort. Zwischen dem Fremden und dem Reiter mußte eine Beziehung bestehen. Der Fremde fürchtete eine Beziehung zwischen ihm und mir.

„Sonderbar,“ fuhr ich zu der Frau fort, „er ritt im Walde an mir vorüber, nicht gar weit von hier. Wenn er nicht hier vorbei kam, so muß er dicht vor dem Hause die Landstraße verlassen haben.“

Auch die Frau war aufmerksam geworden.

„Wie sah er aus?“ fragte sie.

„Er hatte ein breites Gesicht, Blatternarben, einen Schnurrbart.“

„Ich wüßte nicht, wer das sein könnte.“

„Er ritt ein großes, dunkles, mageres Pferd.“

Die Frau sann nach, aber sie schüttelte den Kopf, als wenn sie auf Pferd und Reiter sich nicht besinnen könne.

Der Knecht, den ich vor dem Hause getroffen, war während ihrer Fragen in die Stube getreten. Er hatte unser Gespräch angehört. Sie wandte sich an ihn.

„Hast Du den Menschen gesehen?“

„Es ist Keiner vorbeigekommen,“ antwortete der Knecht.

„Kannst Du Dich auch nicht besinnen, wer es sein könnte?“

„Nein. Aus der Gegend ist er nicht, sonst müßte ich ihn kennen.“

Der Knecht, der nur einen Schlüssel geholt hatte, ging wieder.

(Fortsetzung folgt.)




Erinnerungen an den Kaukasus.

Von einem russischen Officier.

Anapa, eine im Krimkriege oft genannte russische Festung in Kaukasien, wird den Lesern der Gartenlaube auch noch durch eine gelungene Abbildung, welche dieses Blatt in einem früheren Jahrgange brachte, in frischem Andenken sein. Die Stadt liegt vierzig Werste südlich von der Mündung des Kuban auf einem Kalksteinfelsen, welcher sich in das schwarze Meer halbkreisförmig hineindrängt, und fast senkrecht nach dem Meeresspiegel zu abfällt. Das Plateau, welches der Felsen bildet, senkt sich von Süden nach Norden hin, so zwar, daß sich seine höchste Stelle 19 Saschen[1] die niedrigste, von den Festungswerken gekrönt, nur noch 5 bis 6 Saschen über das Wasser erhebt. Hier sucht ein kleiner Fluß, der Bugùr, das Meer zu erreichen; aber es ist ihm nicht vergönnt, sein klares Wasser dem Pontus zuzuführen, denn neidische Sandbänke haben sich vor seiner Mündung gelagert, und hindern grausam die Vereinigung mit dem ersehnten Freunde. Trotzig sucht das Flüßchen, indem es sich in mehrere Arme theilt, den Feind zu umgehen, da es nicht die Kraft hat, seine Mitte zu durchbrechen, doch überall stellen sich neue Sandmassen entgegen. So unterliegt der Arme dem durch die Meeresfluthen täglich wechselnden Widersacher; nur ein kleiner Theil seiner Kräfte erreicht das Ziel, die größere Menge Wasser bleibt stehen und bildet einen Sumpf, der einen Umfang von mehr als zwei Wersten hat, während das Flüßchen hundert Schritt vor der Mündung seine Kräfte auf eine Breite von drei Saschen concentrirt. Früher war der Sumpf vielleicht ein Meerbusen, der nach und nach durch Sandbänke vom Meere abgeschnitten wurde. Die zuströmenden Wasser des Bugùr verhinderten das Austrocknen, und so erstreckt er sich jetzt an acht Werste weit landeinwärts, bewachsen mit Schilf und Rohr, und bevölkert von wilden Schweinen und allerhand Sumpfvögeln, besonders vielen Millionen wilder Enten. Am südlichen Ufer dieser morastigen Strecke haben Kleinrussen, aus verschiedenen Domänengütern abstammend, zwei Dörfer gebildet. Erdwälle und Gräben schützen nothdürftig gegen plötzliche Ueberfälle der benachbarten Tscherkessen. Einige Kanonen und in jedem Dorfe eine Compagnie Soldaten (350 Mann) sind jedoch nicht hinreichend zur Vertheidigung bei stärkeren Angriffen der kriegerischen Feinde, und deshalb ist jeder Bewohner, welcher die Waffen zu tragen im Stande ist, auch verpflichtet, solche zu besitzen, sie immer mit sich zu führen, und sogleich an der Vertheidigung Theil zu nehmen.

Das Anapa zunächst liegende Dorf heißt Alexejewka und liegt etwa vier Werste von ihm, das andere, Nikolajewka, bedeutend größer, ist am Ende des Sumpfes erbaut worden. Hier verwandelt sich der Morast in ein Dickicht von Eichen, Ahorn, Eschen, Weiden und vielen andern Bäumen, welche selten mehr als armsdick und höher als drei Saschen und dabei so von Hopfen, wildem Wein und andern Schlingpflanzen umschlungen

  1. 7 Werste = 1 deutsche Meile; 1 Werst = 500 Saschen oder 3500 engl. Fuß, also 1 Sasche = 7 Fuß engl. = 6¾ Fuß rheinisch.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 388. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_388.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)