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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Ich hatte mich, seitab vom Wege, auf einen alten Baumstumpf gesetzt, um den schönen Frühlingswaldabend recht voll zu genießen. Ihr meint vielleicht, er sei wohl etwas zu poetisch gewesen für ein criminalistisches Gemüth? Ein Anderer erwidert Euch vielleicht darauf, ich sei ja damals noch jung gewesen.

Ach, was das Letztere betrifft, so gibt es kaum ein vertrockneteres Gemüth, als das eines jungen Criminalisten. Wo andere Menschen ein Herz haben, der junge Kaufmann selbst noch neben allen seinen Zahlen, Haupt- und Wechselbüchern, einfacher und doppelter Buchführung, da hat der junge Criminalist nur – eine Carrière, und erst im späteren Alter bekommt er, vielleicht, wieder ein etwas aufgethautes Herz.

Ich sah dem Spiele der immer goldener werdenden Sonnenstrahlen mit den alten und den jungen Bäumen zu. Rund umher war Alles tief still. Die Waldvögel schienen sich wohl schon zur Ruhe vorzubereiten. Andere Vögel, Raben und Krähen, die am Tage ihr Futter draußen in Feld und Wiese und bei den Menschen gesucht hatten, kehrten zurück, ihr Nachtlager in den dichten Zweigen der Bäume, fern von den Menschen, denen doch nicht zu trauen sei, zu suchen. Aber ihre sonst so geschwätzigen Stimmen waren verstummt und selbst ihr Flug war so leise, daß man ihn kaum über sich hören konnte; sie mußten sehr müde sein.

Ich wurde in meinen Betrachtungen der Natur unterbrochen. Etwas noch Poetischeres, etwas so recht tief und zugleich freundlich Poetisches unterbrach mich. Ein klarer, heller Gesang einer weiblichen[WS 1] Stimme schallte durch den Wald. Er nahete sich der Gegend, in der ich mich befand, und kam von der Seite der preußischen Grenze her. Die Sängerin mußte auf der Landstraße näher kommen, die durch den Wald führte, auf der auch ich gegangen war, und von der, etwa zwanzig bis dreißig Schritte seitab, ich mich auf den Baumstumpf gesetzt hatte.

Es war eine hübsche, frische, jugendliche Stimme. Sie sang so fröhlich und lustig, als wenn sie jedem Baume, jedem Stäudchen, jedem Blatte und jeder Blüthe im Walde ihre Freude und ihre Lust mittheilen wollte. Freilich mochte sie wohl nicht daran, sondern an etwas ganz Anderes denken.

Aber die Bäume, die vorhin neidisch die Sonnenstrahlen einander weggefangen hatten, schienen über den frischen Gesang aus der fröhlichen Mädchenbrust Neid und Eifersucht zu vergessen; es war, als wenn sie sich die Töne zuhauchten, immer weiter und weiter, damit Jedes sie vernehmen, sich daran erquicken solle. Der Gesang drang bis in die fernsten Tiefen des Waldes hinein.

„Zufriedenheit ist mein Vergnügen,
Das Andre laß ich Alles liegen
Und liebe die Zufriedenheit.
Und lieb’ und lieb' und lieb’ und lieb’
Und liebe die Zufriedenheit!“

Kennt Ihr die einfache, herzliche, lustige Melodie zu diesen Worten?

Ich lauschte mit den Bäumen und Zweigen und Blättern und Blüthen. Ich war neugierig wie sie, die Sängerin zu sehen. Endlich kam sie. Sie ging langsam und sah vor sich hin. Aber ihre Augen schweiften, wie suchend, überall im Walde umher. Mich hatte sie dennoch nicht gesehen. Auf meinem Baumstumpfe verbarg mich ein vor mir stehender breiter Baumstamm. Ich sah sie desto deutlicher.

Es war eine kleine, dralle, hübsche, außerordentlich behende Figur; eine von jenen Figuren, die ein junger Bursch, wenn er sie sieht, meint, in den Arm nehmen zu müssen, und die einem blasirten deutschen Jüngling das Blut in die Wangen und die Blasirtheit aus dem Herzen treiben könnte. Ihr Gesicht war wie Milch und Blut, ihre Augen wie ein neckisches Feuer. Aber besonders sprach eine kindliche, unschuldsvolle Gutmüthigkeit in dem hübschen, frischen Gesichte sich aus. Sie trug halb städtische, halb ländliche Kleidung, etwa wie ein Dienstmädchen von einem benachbarten Gute. Sie hatte trotz dem scharfen Umhersuchen ihrer feurigen Augen nicht blos mich, sondern auch etwas Anderes nicht gesehen. Ich hatte es bemerkt.

In gerade entgegengesetzter Richtung von ihr schritt ein Mensch nach der Gegend der Grenze zu. Er ging nicht auf der Landstraße, er hielt sich vielmehr jenseits derselben im Walde. Dort schlich er unter den Bäumen, leise und leicht. Er wollte offenbar gerade von dem Mädchen nicht gesehen sein, das seine Augen, wie ich, ungeachtet der Entfernung, deutlich glaubte wahrnehmen zu können, sorgsam wahrten. Er schien ein noch junger Mensch zu sein. Seine Kleidung war ebenfalls eine halb städtische, halb ländliche, als wenn er ein Knecht aus der Gegend wäre.

Als er in derselben Linie mit dem Mädchen war, ließ er dieses noch ein paar Schritte weiter gehen. Dann drehete er sich plötzlich um und schnell, wie ein Blitz, und eben so unhörbar schoß er aus dem Walde, unter den Bäumen hervor, auf die Landstraße, auf das Mädchen zu.

Sie sah und hörte ihn auch jetzt nicht und ging singend und suchend weiter.

„Und lieb’ und lieb’ und lieb’ und –“

Auf einmal verstummte ihr Gesang.

„Was ist denn das?“ rief sie.

Sie war von hinten umfaßt. Zwei Hände hatten sich auf ihre Augen gelegt; sie konnte nicht sehen, sie konnte nicht den Kopf, nicht die Arme, nicht den Körper rühren.

„Spitzbube, Du bist es!“ rief sie.

„Wer?“ fragte eine verstellte Stimme hinter ihr.

„Wirst Du mich auf der Stelle loslassen?“

„Eine solche Landläuferin!“

„Ich kratze Dir die Augen aus.“

Die verstellte Stimme lachte.

„Womit?“

„Nachher. Du wirst sehen.“

„Nun, das möchte ich sehen.“

Das sprach keine verstellte Stimme. Die umschlingenden Arme hatten sie losgelassen. Ein schmucker, hübscher Bursch stand lachend vor dem Mädchen.

„Angeführt, mein Mädchen!“

„Aber Deine Strafe bekommst Du, gottloser Bursche.“

„Nachher,“ sagte er jetzt.

Und er legte seinen Arm um sie und sie den ihrigen um ihn, und sie küßten sich herzhaft und herzlich. Als sie sich satt geküßt hatten, sagte der Bursch lachend:

„Nun meine Strafe; haben muß ich sie doch einmal, ich kenne Dich ja. Nachher können wir um so besser miteinander plaudern.“

Aber das Mädchen sah ihn ernst an und erwiderte:

„Diesmal soll sie Dir geschenkt sein. Ich habe Dir etwas Wichtiges und etwas recht Glückliches zu sagen.“

„Laß hören, mein Mädchen.“

„Mein Oheim war bei mir.“

„So? Und was wollte er?“

„Ich soll wieder zu ihm kommen.“

Das Gesicht des jungen Menschen nahm einen Ausdruck der Verstimmung an.

„Und das ist Dir ein Glück?“

„An dem Oheim ist mir auch nicht viel gelegen.“

„Ich kann ihn nicht ausstehen.“

„Aber meine Tante ist doch brav.“

„Gerade sie hat Dich damals fortgejagt.“

„Es reuet sie. Sie ist zuweilen heftig, aber sie hat ein gutes Herz. Ich soll wieder zu ihr kommen; sie hat den Oheim deshalb expreß zu mir geschickt.“

„So sagt er?“

„Wie könnte er es lügen?“

„Und Du gehst gern hin?“

„Es ist doch besser, als bei den fremden Leuten dienen. Sie sind so grob, so schlecht hier an der Grenze.“

„Du verläßt mich also auch gern?“

Der junge Mann fragte in bitterem Tone.

Das Mädchen wurde traurig. Aber doch zeigte sie durch ihre Trauer einen ruhigen, zuversichtlichen Muth.

„Fritz, so, wie jetzt, können wir auf die Dauer hier nicht beisammen bleiben. Du darfst nicht auf die andere Seite der Grenze kommen; die preußischen Beamten lauern auf Dich, wie auf ein wildes Thier, um Dich Jahre lang in das Zuchthaus zu schicken. Und ich kann mich nur verstohlen des Abends hier in den Wald schleichen, wenn ich Dich einmal sehen will.“

„Ja, es ist ein trauriges Leben,“ sagte der Bursch.

Und doch waren sie noch wenige Augenblicke vorher so lustig und fröhlich gewesen. Sie hatten gesungen; er hatte den Scherz mit ihr gemacht; sie hatten Beide gelacht, und umfaßt und geküßt hatten sie sich so herzlich und so glücklich, als wenn es für sie nimmer ein Leid in der Welt geben könne.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: weibliche
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_386.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)