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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 27. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der erste Fall im neuen Amte.

Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


Ich wurde – vor nahe an dreißig Jahren – nach N. in der preußischen Provinz N. als Director des dasigen Inquisitoriats versetzt.

Ich kannte weder die Stadt, noch die Provinz. Ich wußte nur aus der Geographie, daß die Stadt ein Landstädtchen mit 5000 Einwohnern war. In der Stadt und deren Umgegend war mir auch kein einziger Mensch bekannt; eben so waren mir die Verhältnisse von Stadt und Land, also auch das Besondere meiner neuen amtlichen Stellung völlig fremd. Was ein Inquisitoriat war und was der Director einer solchen Criminalbehörde zu thun habe, wußte ich freilich.

Indeß hatte ich auf der Reise von meinem bisherigen zu meinem neuen Aufenthaltsorte Berlin berühren und dort dem Justizminister mich vorstellen müssen, und dieser hatte wenigstens mit Einzelnem für meine künftige amtliche Stellung mich bekannt gemacht.

„Sie wird in der ersten Zeit eine schwierige und auch außerdem keine angenehme für Sie sein. Aber –“

Der Minister ging auf meine bisherige Amtsführung ein und fuhr dann fort:

„Aber Sie werden Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu überwinden wissen. Beide sind durch das bisherige und zum Theil noch vorhandene Richterpersonal des Inquisitoriats hervorgerufen. Der jetzt endlich pensionirte Dirigent war schon lange unfähig; die noch fungirenden Criminalräthe sind es auch, doch es ist zur Zeit unmöglich, sie gleichfalls zu pensioniren. In Folge von dem Allen sind die Geschäfte des Gerichts in große Unordnung gerathen, und eine Folge davon ist wieder gewesen, daß die Verbrechen in dem Bezirke des Gerichts auf eine schreckenerregende Weise zugenommen haben.

„Zu Ihnen vertraue ich nun,“ schloß der Minister, „daß Sie einerseits mit Strenge und Energie die Ordnung der Geschäfte wieder herstellen, andererseits aber auch jene beiden alten Criminalräthe, die zu ihrer Zeit tüchtige Beamte waren und nur durch den langen und angreifenden Dienst stumpf geworden sind, mit aller Milde und Rücksicht behandeln werden, welche langjährige treue Dienste fordern und verdienen.“

Ich war jung, rüstig, an Arbeiten gewöhnt. Ich hatte in dem Amte, aus dem ich unmittelbar herausgerufen war, vollständig ähnliche Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu überwinden gehabt und ohne Mühe überwunden. Ich ging getrost dem neuen Amte entgegen.

Mein neuer Gerichtsbezirk lag an der hannoverschen Grenze; ich hatte im Hannoverschen einen Universitätsfreund. Ich bat den Minister nur, diesen vor Antritt meines Amtes besuchen zu dürfen. Er gestattete es mir.

Ich reiste von Berlin nach Hannover mit der Schnellpost – Eisenbahnen gab es damals in Deutschland noch nicht – besuchte meinen Freund, der von der großen Straße entfernt wohnte, und kehrte dann nach Preußen zurück, und zwar aus dem Hannoverschen unmittelbar in meinen neuen Gerichtsbezirk. Ich hatte bis zu diesem anderthalb Tagereisen. Mein Weg führte mich, nach der Versicherung meines Freundes, fast ununterbrochen durch schöne Gegenden. Ich machte die kleine Reise zu Fuße.

Ich hatte dabei zugleich etwas Anderes im Auge. Von der Grenze bis zu der Stadt N. hatte ich eine ziemliche Strecke meines neuen Gerichtsbezirks zu passiren; eine Fußwanderung gab mir Gelegenheit, Manches kennen zu lernen und zu erfahren, was mir für meine künftige Wirksamkeit von Nutzen sein konnte.

Ich war, nach den Nachrichten, die ich eingezogen, nicht mehr weit von der Grenze entfernt. Ich befand mich in einem weiten Walde, wie man sie merkwürdiger Weise gerade an den Grenzen verschiedener Staaten hüben und drüben so häufig findet, als wenn die Regierungen den vielen und schweren Verbrechen, welche eben das Grenzverhältniß zu erzeugen pflegt, auch noch recht einen passenden Schauplatz und den Urhebern derselben einen sicheren, unzugänglichen Schlupfwinkel einräumen wollten.

Es war ein heller, warmer Frühlingsabend. Die Sonne stand schon tief am Horizont, gerade so tief, um von den belaubten Kronen der Bäume nicht mehr gehindert zu werden, ihre goldgelben Strahlen bis recht mitten, recht tief in den Wald hineinzuwerfen. Es bildeten sich wundervolle Licht- und Schattenpartieen unter den alten hohen Bäumen, zwischen dem jungen niedrigen Gebüsch. Das alte und das junge Volk freute sich auch hier in dem stillen, entlegenen hannoverisch-preußischen Grenzwalde der hellen, lustigen Sonnenstrahlen, und wenn ein dicker, alter, knorriger und knurriger Eichenstamm sie lange festgehalten, aber doch zuletzt ihnen nicht hatte wehren können, auf die Seite zu huschen und mit einer kleinen hübschen grünen Haselstaude oder mit den schneeweißen Blüthen eines jungen Kirschbäumchens zu spielen, dann meinte man ordentlich, die jungen Blätter und die frischen Blüthen vor Wonne in dem lauen, leisen Abendwinde sich schauern zu hören. Den armen kleinen jungen Dingern wurde es ja selten so wohl unter den hochmüthigen, dickbäuchigen Großen des Waldes.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_385.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2020)