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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

welche sich ebenfalls aus den unter III. gegebenen Erörterungen direct herleiten: Es kommt darauf an, die Einflüsse, welche den Willen zur Annahme einer Skoliose bestimmen, fern zu halten.

     1. Die Zeit des anhaltenden Sitzens ist überhaupt möglichst einzuschränken, der Unterricht soll durch zweckmäßige Einschaltung von Erholungspausen unterbrochen werden, auch im Lehrgegenstande sich der nöthigen Abwechselung befleißigen, nicht Stunden lang ein und dasselbe Thema tractiren. Es sei den Kindern erlaubt, sich anzulehnen, wobei sie sich immerhin gerade halten werden, wenn nur der Sitz nicht zu lang ist, sondern der Art, daß bei herangezogenen Knieen die Füße auf den Boden zu ruhen kommen und der Rücken die Lehne gerade erreicht. Beim Schreiben sollen beide Arme in gleichem Umfange aufliegen, die Höhe des Tisches muß dem Größenmaße des Körpers entsprechen. Der Tisch darf nicht rund sein. Die gemeinsame Schulbank hat bei der verschiedenen Körpergröße der Schüler manche Inconvenienz und noch mehr, wenn dieselben gedrängt sitzen und der Einzelne für seine beiden Arme nicht den gehörigen Spielraum gewinnt. Beim Beginn jeglicher Art Unterricht soll den Kindern vor Allem die nöthige Haltung beigebracht werden, sie müssen lernen, die erforderliche Stellung mit Bewußtsein einzuhalten, und bei Beginn jeder Stunde soll dieser Punkt, wenn nöthig, stets von Neuem erörtert werden.

Die Kleidung liege in der Taille fest an, dagegen lose um Brust und Schultern, sie hindere den Arm in keiner Weise; die hohen Kleider bei den Mädchen sind zu verwerfen: dieselben sind in der Regel, damit sie gut sitzen, in den Rückentheilen so schmal geschnitten, daß sie die Schulterblätter stark nach hinten zusammenziehen, und die Arme in eine gezwungene Haltung bringen.

     2. Hat ein Kind bereits eine Skoliose erworben, so kommt es vor Allem darauf an, es über die fehlerhafte Haltung und deren Unterschied von der geraden gründlich zu belehren. Es ist hierbei viel Geduld und Vernunft von beiden Seiten nothwendig; bei aufrechter Stellung ist es nicht möglich, die gerade Haltung von Anfang an den ganzen Tag über zu beobachten. Denn das Ungewohnte der neuen Muskelthätigkeit wirkt ermüdend, erst allmählich gewöhnt man sich daran. Leichter gelingt es in der Rückenlage: deshalb lasse man das Kind, nachdem man es gerade gerichtet, längere Zeit auf dem Sopha liegen und controlire des Oefteren durch Betasten der Wirbelsäule mit der Hand. Es ist diese Methode der Untersuchung überhaupt die einzig zuverlässige; das bloße Beschauen ist betrügerisch, und das bloße Liegen thut es durchaus nicht: die Kinder können auch mit krummer Wirbelsäule liegen.

     3. Bei höherem Grade erwächst der Behandlung eine zweite Aufgabe: es sind nämlich alsdann die Muskeln an der Concavität in einen Zustand von Unthätigkeit gerathen, und sie müssen der Willkür erst wieder zugänglich gemacht werden. Dieser Zweck wird erreicht, indem man vorerst eine der bestehenden entgegengesetzte Krümmung annehmen läßt, wobei die Hände des Andern thätig mitwirken. Auch diese Procedur wird durch Liegen wesentlich erleichtert; abwechselnd mit der Rückenlage schiebe man in der Seitenlage unter der der hohen Schulter entsprechenden Weiche des Kindes ein Kissen unter. Als sehr wirksames Unterstützungsmittel hat sich hierbei die locale Faradisation der Muskeln (s. Gartenl. 1857. Nr. 38.[WS 1]) erwiesen.

     4. Der Wille ist die beste orthopädische Maschine – Rückenschilder, Geradhalter u. dgl. sind nicht geeignet, allein eine radicale Cur herbeizuführen. Abgesehen von manchen ganz unzweckmäßigen Apparaten, haben sie wenigstens das Gute, den Kranken an die gerade Haltung beständig zu mahnen und dieselbe durch ihre mechanische Unterstützung zu erleichtern. Am einfachsten und zweckmäßigsten ist der sogenannte Inclinationsgürtel nach Hossard und Tavernies.[1]

     5. Turnen, Schwimmen u. s. w. sind ganz gute diätetische Exercitien, aber nicht für Skoliolische. Diese müssen im Gegentheil geschont werden; nach jeder durch die Tagesarbeit herbeigeführten Ermüdung müssen sie gründlich ausruhen, und es kann sogar nothwendig erscheinen, sie ganz vom Schulbesuche zu dispensiren. Turnen und Schwimmen sind Strapazen, und überdies kann sich der Skoliotische, wenn der Lehrer nicht stets darauf achtet, auch im Wasser schief halten.

Die höheren Grade der Skoliose fallen der eigentlichen Orthopädie anheim, über die sich manch’ kräftig Wörtlein sagen ließe. Uns kam es hier zunächst darauf an, die Skoliose in soweit abzuhandeln, als sie in das Bereich der häuslichen Kinderpflege gehört, welche eben bei gehöriger Ausübung jene kostspieligen und nicht immer erfolgreichen Curen in orthopädischen Instituten unnöthig macht.





Erlebnisse in Mexico.

Auf dem Hochplateau der alten Hauptstadt Mexico gedeihen nur noch Maulesel, ihre Treiber und Fremde, besonders Deutsche, Deutsche, das unermüdlichste, siegreich eroberndste aller Völker, das bereits in alle Breiten- und Längengrade der Erde waffenlos, aber mit den allein erobernden Waffen des Fleißes, der Geschicklichkeit und Ausdauer, der erfinderischen Noth, des Stehens und Gehens auf den Füßen eigenster und doch elastisch in fremde Zustände sich hineinfindender Cultur eingedrungen ist, sich dort behauptet, ausbreitet und immer bedeutsamer geltend und für die Weltcultur nützlich zu machen weiß. Doch wir wollen den Mund nicht zu voll nehmen, zumal, da es hier einem bankerotten, deutschen Kaufmann in Mexico gilt. Nach einem ehrenvollen Heldenkampfe mit der faulen, intriguanten spanischen und Bastard-Bevölkerung fiel er. Er glaubte sich nicht wieder erheben zu können und beschloß deshalb, seinem Leben selbst ein Ende zu machen, ein Act, der unter der feigen, Andere mordenden Bevölkerung Mexico’s nie vorkommen soll. Aber er wollte in den Tod gehen, ohne den angehörigen Lebenden die Schande eines Selbstmordes zu vererben. So sann er und fand endlich ein Mittel, unter dem Scheine eines tragischen Todes seinem Leben ein Ende zu machen.

Ueber dem Krater des von A. v. Humboldt geschilderten Vulcans Popocatepetl hängt stets eine giftige, beizende Wolke bläulichen Schwefeldampfes, der stets aus dem Abgrunde des Schlundes genährt wird. Jede Annäherung an den Rand des Kraters droht mit Erstickungstod. Eine persönliche Versenkung in den Krater hinein erschien unserm lebensmüden Landsmanne deshalb ein sicheres Mittel, die sonst so geliebte Bürde des Lebens los zu werden. Das wußte er. Er verbreitete unter seinen Freunden die Nachricht, daß er sich einmal erholen, eine Gebirgsreise machen und die Schwefelkappe des Popocatepetl einmal näher untersuchen wolle.

So reiste er ab zum Selbstmord.

An den verschiedenen Abhängen des schluchtenreichen Vulcankegels kleben mehrere Indianerdörfer. Aus einem der höchsten nahm er sich zwei Führer mit und die nöthigen Stricke und Balken. Mit diesen stieg er an den Rand des Kraters und befahl ihnen, zwei Balken quer am Krater überzulegen, die Stricke zu befestigen und ihn daran hinunterzulassen, da er wünsche, das Innere des Abgrundes zu untersuchen. Vergebens redeten sie ihm ab, da dies sicherer Tod sei. Er sagte ihnen blos, daß sie seine Befehle ausführen, ihn hinunter lassen und warten sollten, bis er mit einem an seinem Arme befestigten Seile das Zeichen zum Hinaufziehen geben werde. Hierauf schloß er die Augen, hielt den Athem an und glitt an dem Seile hinunter. Um alle seine Sinne stach und brannte und brauste es, das Hirn im Kopfe drohte zu springen und der gewaltsam angehaltene Athem durchrieselte ihn mit den Vorboten des Erstickungstodes aus Mangel an athembarer Luft. Aber er hielt noch aus und fuhr fort, hinunterzusteigen, bis plötzlich, wie durch ein Wunder, ihn eine reine, erquickend geathmete Luft aufnahm und sofort auch ein fester Boden. Er öffnete die Augen und sah sich in einer andern Welt, in einem Ungeheuern goldgelb-krystallenen Wunderdome voll der abenteuerlichsten Arabesken und Figuren, angeglitzert von unzähligen blauen Flammen, die wie Geister dieser vulcanischen Kirche aus Winkeln, Spitzen, Säulensimsen und Mauerlöchern hervorflackerten oder in den malerischsten Zuckungen an den Colonnaden und Wänden einporzuckten, sich bald verkleinernd, bald zu grimmigen, schlanken Riesen aufschießend.

  1. Unter Umständen ist auch der Gebrauch der Kopfschwebe zu empfehlen, in welcher die Wirbelsäule durch das Körpergewicht gestreckt wird. Beide Apparate sind billig und werden von jedem Bandagisten gefertigt.
  1. Vorlage: 1857. Nr. 36
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_376.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)