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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

stark geworden sein sollen. Es ist eine besonders den Erziehern geläufige Vorstellung, daß bei der gewöhnlichen Beschäftigungsweise der Kinder, bei dem überwiegenden Gebrauch der rechten Hand und mithin des rechten Armes dieser in seinen Muskeln eine größere Kraft gewinnen müsse, als der verhältnißmäßig wenig gebrauchte linke. Durch dieses Uebergewicht der rechten Seite soll nun die Wirbelsäule nach rechts verzogen werden.

Aus dieser Ansicht entspringt das bekannte System: die rechte Hand ganz außer Gebrauch zu setzen und alle Handirungen der linken Hand zu übertragen; diese überdies durch örtliche Gymnastik – längeres Hängen mit derselben an einer Schwebe, methodisches Drehen einer Walze mit der linken Hand – zu kräftigen. Ferner gingen aus dieser Auffassung die Einreibungen hervor, indem man die hervorgewölbten Muskeln der rechten Seite zur Erschlaffung mit Oel, die der linken zur Stärkung mit Weingeist behandelte. Diese Einreibungen sind nutzlos, da sie nicht zum Muskel dringen, und gegen diese zweite Theorie überhaupt ist Folgendes zu erwägen. Zuverlässige statistische Untersuchungen mit dem Kraftmesser haben ergeben, daß bei Skoliotischen die rechte Schulter keineswegs stärker ist, als die linke, daß selbst Linkshändige die Krümmung nach rechts bekommen, endlich daß, wo wirklich der rechte Arm stärker war, als der linke, die Skoliose fehlte.



III.

Wir haben sonach dargethan, wie die gebräuchlichen Theorien das eigentliche Wesen der Skoliose nicht ergründen und die gewöhnliche Behandlung auf Illusion beruht. Zur Wahrheit gelangt man durch einen Schritt weiter: die Muskeln als solche können keine Krümmung zu Wege bringen; sie sind kein selbstständiges Gebilde, sondern stehen in directer Abhängigkeit vom Nervensystem: ohne Nerven keine Muskelaction! Die Nerven selbst aber werden von der Seele und dem Willen bestimmt und dieser Gesichtspunkt führt zur sachgemäßen Deutung der Skoliose, deren Schlußergebniß wir hier vorweg nehmen.

Die hohe Schulter ist eine mit Willen angenommene Körperhaltung, und daß sie dies ist, beweist direct die Erfahrung, daß sie in den Anfangsstadien bei gehöriger Instruction des Kindes willkürlich sogleich wieder aufgegeben werden kann. Wie selten die Skoliose durch wirkliche Krankheit entsteht, haben wir oben durch Zahlenverhältnisse anschaulich gemacht.

Der Wille wird durch innere und äußere Einflüsse bestimmt: als innere sind hier bloße Laune oder Bequemlichkeit zu nennen; Kinder, welche viel sitzen müssen und dabei durch ermüdende Lehrgegenstände in Anspruch genommen werden, denen sie theilnahmlos und rein mechanisch ihr Ohr leihen, werden unlustig, ihre Muskeln irgendwie zu beherrschen; sie rücken hin und her, nehmen eine lasche Haltung an, „knicken ein“ zu einer, wie wir sehen werden, bequemeren skoliotischen Tournüre.

Als äußerer Einfluß kommt namentlich die Beschäftigung in Betracht: irgend einer im täglichen Leben oft wiederkehrenden Handirung gibt sich der Körper in einer gewissen Gruppirung der Theile hin, welche ihm schließlich zur comfortablen Ausführung zum Bedürfniß wird. Ein auffälliges Beispiel liefern hierfür gewisse Gewerke: so sitzt z. B. der Nadler den ganzen Tag bei der Drahtarbeit mit der rechten Hand über dem Tische, mit der linken mehr nach unten und dieser verschiedenen Tendenz der Extremitäten folgt er unbewußt mit dem Rückgrats durch eine Biegung nach rechts; fast alle Nadler sind mehr oder weniger skoliotisch. Der Beobachtung zugänglicher sind die Clavierstimmer, welche, besonders seit die Pianino’s in allgemeinen Gebrauch gekommen, zumeist schief oder wirklich skoliotisch sind; mit der rechten Hand müssen sie hoch hinauf zu den Saitenstiften greifen, mit der linken schlagen sie die Tasten an.

Sehr belehrend ist folgendes Beispiel.

Ein Beamter hatte auf einem Commissionsposten einen höchst beschränkten Platz zum täglichen stundenlangen Actenverhör an einem von der Sonne beschienenen Fenster; um den Lichtstrahlen zu entgehen, pflegte er, während er hart am Fenster saß, das Schreibmaterial mehr nach rechts abzurücken und durch eine starke Seitenbiegung des Rumpfes demselben handgerecht zu werden. Nach beendeter Untersuchung ward er stark skoliotisch erfunden.

Für die Kinder ist die Periode vom zehnten bis sechzehnten Lebensjahre die Zeit des angestrengten Schulbesuchs oder der weiblichen Arbeiten. Dieselben provociren auf die verschiedenste Weise zur Annahme einer Skoliose: es kommt zunächst das Bestreben in Betracht, den rechten Arm, mit dem gearbeitet wird, möglichst frei zu haben; um dies zu erreichen, auch wohl, um ihn von der Einpressung durch das enge Rückenstück des Kleides und dem engen Aermel zu befreien, ziehen sie den rechten Arm vom Körper ab, zugleich die rechte Seite hinausneigend und krümmen so die Wirbelsäule nach rechts; dagegen die linke Seite eingezogen und der linke Ellenbogen an den Rumpf angeschlossen wird.

Nach diesem Schema läßt sich die Entstehung der Skoliose für die gangbarsten Beschäftigungen abstrahiren; es kommen namentlich in Betracht das Nähen am Tambourin, das Steppen der Handschuhe im Schraubstock u. dergl., nicht minder das Schreiben. Der Einfluß der Beschäftigung und der dabei stereotypen Haltung erhellt auf’s Deutlichste aus jener neuen Schreibmethode; seit man nämlich den rechten Arm in die Seite drängen und den linken Ellenbogen ganz auflegen läßt, tauchen Skoliosen auf, deren Krümmung nach links gerichtet ist.

Indem die Erziehung vornehmlich bei den Mädchen auf eine gute Haltung sieht, müssen dieselben, ohne sich anzulehnen, kerzengerade sitzen, ja, es ist Princip, ihnen die Lehne überhaupt zu versagen. Diese Strapaze halten aber die Kinder nur kurze Zeit aus; wir sagen Strapaze, denn bei dieser Art Sitzen befinden sich die Rumpfmuskeln keineswegs im Ruhestande, sondern sie werden beständig in Action gehalten, um die Wirbelsäule zu balanciren, und dabei wird noch mit den Händen gearbeitet. Es gewährt nur einige Erleichterung, die Wirbel in der Art zu verrücken, daß die Bänder den Muskeln zu Hülfe kommen; die Krümmung nach vorn wird nicht gestattet und so biegen die Kinder das Rückgrat zur Seite. Die Erholung, welche eine solche Ausbiegung, respective Einknickung nach längerem Geradesitzen gewährt, kann Jeder an sich selbst leicht controliren.

Wie bereits angedeutet, findet sich bei Knaben etwa bis zum achten Jahre die Skoliose mit vorherrschender Lendenkrümmung oder vielmehr diese leitet die Entstehung derselben ein. In diesem Alter sind dieselben viel auf den Beinen und stehen auch meist bei den Beschäftigungen am Tische; es gibt Erziehungsanstalten, wo diese Stellung geradezu für das Schreiben und Lesen eben aus orthopädischen Rücksichten eingeführt ist. Bei näherer Beobachtung wird man finden, wie die Kinder mit Vorliebe auf dem linken Beine ruhen, den rechten Fuß dagegen auf jenes aufsetzen; es geschieht dies, um das Stehen zu erleichtern oder bei eintretender Ermüdung. Gleichzeitig verrücken sie den Schwerpunkt des Körpers aus der senkrechten Linie nach links und die Wirbelsäule erhält dadurch eine Krümmung im Lendentheile ebenfalls nach links. Es ist dies so häufig, daß der erfahrene Arzt, wenn ihm ein schiefer Knabe unter zehn Jahren zugeführt wird, diese Art der Skoliose vorher bestimmt.

So mannigfach die Beschäftigung, so verschieden ist auch die jedesmalige Figur der Skoliose innerhalb des unter I. abgesteckten Rahmens. Nach der gegebenen Andeutung wird es leicht werden, für jeden einzelnen Fall die besondere Entwickelungsgeschichte der Skoliose zu entwerfen.

Anfangs kann, wie gesagt, die schiefe Haltung sogleich willkürlich wieder aufgegeben werden; schließlich aber wird sie dermaßen zur Gewohnheit, daß das richtige Urtheil über die eigentliche gerade Haltung verloren geht. Man überzeugt sich hiervon durch die Beobachtung am nackten Rücken des schiefen Kindes; gebietet man ihm, sich gerade zu halten, so macht es eine forcirte Bewegung mit dem Rumpfe nach hinten, es überstreckt die Wirbelsäule und zieht etwa die Schulterblätter nach hinten zusammen; im Uebrigen bleibt es schief, obgleich es sich nun beim besten Willen für gerade hält. Gibt man ihm nur durch Manipulation erst die richtige Stellung, so erscheint ihm diese vielmehr als schief, sie ist ihm unbequem, selbst schmerzhaft und es kehrt alsbald in die schiefe Haltung als die in seinem Sinne gerade zurück.




IV.

Diese Beobachtung liefert uns sofort den Schlägel zur richtigen Behandlung, welche bei nöthiger Consequenz nach einmaliger Anweisung des Arztes auch der Laie durchzuführen im Stande ist. Zunächst einige Winke zur Verhütung der Skoliose,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_375.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)