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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

zu einem wahrhaftigen Paradiese umgeschaffen werden können, – und doch! – welche Misere lauert hinter diesen bombastischen Industrieausstellungen der Speculation! Wie schneidend macht sich dagegen der Contrast der gemeinen Wirklichkeit geltend, deren Nothfragen immer brennender werden, je lauter jene weisen Theoretiker in das Horn ihrer Untrüglichkeit stoßen! – Wie bescheiden trat in derartigen Beziehungen das elastische Alterthum auf, dessen Menschen in ihrer gesunden Naturwüchsigkeit dem Ideale körperlicher Schönheit und Kraft sicher nicht so fern standen, als unsere Zeitgenossen trotz ihrer adonisirenden Toilettengeheimnisse und Lebenselixire! Stand Jenen doch zu ihren plastischen Kunstschöpfungen eine Fülle von schön gebauten Modellen zu Gebote, die den Künstler zur Darstellung eines Jupiter, eines Apollo, einer Here oder Aphrodite zu begeistern vermochte, während er in unserer kränkelnden Gesellschaft wohl lange suchen müßte, ein solchen Idealen entsprechendes Vorbild vollendeter Leibesschöne zu finden.

Vor Allen kam bei jener allseitigen Ausbildung der körperlichen Sicherheit den Völkern der alten Zeit ihre Vernunft- und naturgemäße Leibesdiät, ihre Vorliebe für harmonische Entwickelung der äußerlichen Formen, ihre geschmackvolle und alle Körpertheile zur gleichmäßigen Vollendung zeitigende Kleidung, und vor Allem ihr unausgesetzt reges Leben in der freien, frischen Luft öffentlicher Plätze zu Statten. Vergleichen wir damit unser Geschlecht! Welche Deformitäten und Schwächen des Leibes bereitet ihm nicht die launenhafte Mode und die schon im Säuglingsalter beginnende Verwöhnung, die zwar nach Idealen strebt, in der That aber nur zu oft Karrikaturen erhascht!

Um diese an sich hart erscheinende Anklage der gegenwärtigen Misère durch ein besonderes Beispiel aus dem Bereiche ärztlicher Erfahrungen zu erörtern, wählen wir unter den vielen Jammerbildern des „civilisirten“ Zeitalters nur die eine zum Gegenstande näherer Betrachtung, welche unter der Bezeichnung der Ueberschrift Jedem sofort wohl bekannt ist.




I.

Die hohe Schulter ist die Folge einer Mißstaltung des Rückgrates; dieses verläßt in einem gewissen Umfange die gerade Richtung zur Seite; die Seitwärtskrümmung der Wirbelsäule aber bezeichnet die Medicin als Skoliose; die hohe Schulter ist also kein selbstständiges Schulterleiden, sie ist nur das auffälligste Symptom einer Ruckgratsverkrümmung.

Die Uranfänge der Skoliose sind ganz unmerkliche und werden dem spähenden Mutterauge nur mehr ahnungsweise offenbar; man spricht daher zunächst von einer Anlage zum Schiefwerden; die Mißstaltung ist nämlich noch keine permanente, sondern tritt nur zeitweilig in die Erscheinung; selbst ausgesprochenere Grade werden noch leicht genommen: man tröstet sich damit, „daß sich das verwachsen werde,“ oder daß das Mädchen, wenn es erst „eitler geworden, sich schon von selbst gerade halten werde.“ Nimmt aber trotzdem die Krümmung zu, so läßt man turnen, schwimmen, macht Einreibungen, legt Rückenschilder oder sonstige Geradhalter an – umsonst; immer deutlicher tritt folgendes Bild zu Tage:

Die rechte Schulter steht höher, als die linke, und nach rechts hin macht die Wirbelsäule mit ihren Brustwirbeln eine Krümmung, deren Bogen man am Genauesten abschätzt, wenn man einen Faden (eine Uhrkette) um den Hals legt und in der Mitte des Rückens durch Belastung senkrecht zieht. Dieser oberen Krümmung nach rechts entspricht eine mehr oder weniger deutliche untere Krümmung der Lendenwirbel nach links, so daß die ganze Wirbelsäule ein umgekehrtes S darstellt. Eigenthümlich ist ferner der Zustand der Muskeln zu beiden Seiten: an den convexen Stellen treten dieselben stark hervor, als waren sie angespannt, und fällt namentlich der Lendenmuskel als ein dicker Wulst zur linken Seite in die Augen; an der Concavität dagegen scheint die Musculatur geschwunden und diese Partien sind abgeflacht, selbst scheinbar eingesunken.

Dieses Musterbild der Skoliose erscheint ferner in zwei Varietäten: es tritt nämlich entweder die Brust- oder die Lendenkrümmung in den Vordergrund; die letztere ist auch wohl zuerst entstanden, wie wir unter III. weiter ausführen werden.

Mit der Wirbelsäule erleiden die an sie gehefteten Rippen, besonders die unteren, eine Lageveränderung: rechterseits werden sie entsprechend zusammen, ja übereinander geschoben, linkerseits auseinandergezerrt; daher die Skoliotischen in der Lebergegend eine Hervortreibung zeigen, während die linke Weiche eingezogen erscheint. So wird der Schiefe schließlich zu jener Karrikatur, die der Sprachgebrauch nunmehr als „buckelig“ bezeichnet. In der Medicin dagegen versteht man unter Buckel – Kyphose – nur die Krümmung nach hinten, wie sie im Greisenalter so häufig.

Zum Glück bleibt das Uebel häufig auf dieser Stufe stehen; nicht selten aber schreitet es allmählich weiter bis zu einem Grade von Verunstaltung, welcher durch Beeinträchtigung der edlen Eingeweide das Leben gefährdet und zum Tode führt. Wir berühren auch diesen außer dem Bereiche der Kunsthülfe liegenden Zustand, weil derselbe in diesem engen Zusammenhange mit einem vernachlässigten Körperfehler nicht allerseits gewürdigt wird.

Der Mißstaltung des äußeren Gerüstes entspricht eine Formveränderung der Körperhöhlen, von deren Umfang man sich oft keinen Begriff macht. Fassen wir einen bestimmten Fall in’s Auge, so ist die rechte Brusthöhle auf ein Minimum reducirt, die Lunge darin nur als ein Ueberbleibsel vorhanden, in den unteren, noch allenfalls geräumigen Theil hat sich die Leber eingedrängt. Dagegen ist die linke Brusthöhle verhältnißmäßig erweitert und ihrem Lungentheile fällt das ganze Athmungsgeschäft anheim: dieser wird dadurch über die Maßen vergrößert und eine so vergrößerte Lunge ist eben so wenig fähig zur normalen Functionirung, wie jene geschrumpfte der anderen Seite.

Der Blutlauf durch die Lungen zum Herzen und vom Herzen zur Lunge ist gehindert; durch den beständigen Rückstau des Blutes wird das Herz übermäßig erweitert und schlägt hammerartig an die Brustwand. Daher die Skoliotischen nach der geringsten Bewegung (Treppensteigen) von Kurzathmigkeit, Blausucht und Herzklopfen befallen werden. Diese Symptome werden nebst Brust- und Kreuzschmerzen, quälendem Husten, welcher gewöhnlich auf Erkältung geschoben wird, schließlich permanent, die Rückenlage ist unerträglich, und endlich führt ein Lungenschlag die Auflösung – oft ganz unerwartet – herbei.




II.

Welches sind nun die Entstehungsursachen der Skoliose?

Diese mit der Behandlung so innig verknüpfte Frage ist noch keineswegs zu der nöthigen Aufklärung im Publicum gelangt und die gewöhnlichen Ansichten beruhen auf Irrthum, wie sich aus einer kurzen Prüfung derselben ergeben wird.

Von inneren Krankheiten, als Drüsen, „englischer Krankheit“, sehen wir ab; die Skoliose, welche wir hier im Auge haben, befällt innerlich ganz gesunde Kinder und ihre Häufigkeit ist so überwiegend, daß vom Hundert dreiundachtzig auf ihren Antheil und nur siebzehn auf jene Krankheiten als Ursache kommen. Manche Eltern geben an, daß das Kind einmal – gewöhnlich durch Verschulden des Mädchens – auf die Erde gefallen sei, doch wird dieser Anlaß gewöhnlich erst nachträglich hervorgesucht. Am verbreitetsten ist die Ansicht, daß die hohe Schulter eine Krankheit der Muskeln sei, die man sich in doppelter Weise vorstellt:

     a) als eine allgemeine Muskelschwäche.

Die Muskeln – sagt man – sind nicht stark genug, die Wirbelsäule gegen das Gewicht des Kopfes in ihrer geraden Richtung zu behaupten; sie wird durch dasselbe seitwärts gedrückt, wie jener elastische Stab, auf dem der Athlet eine Kugel balancirt. Von diesem Standpunkte aus ordnet man zu allgemeiner Stärkung kalte Bäder, Schwimmen, Turnen an oder gibt innerlich stärkende Arzneien; wir erheben aber folgende Bedenken dagegen:


     1. Die angebliche Muskelschwäche ist bei den Skoliotischen keineswegs einleuchtend; ein Blick in einen orthopädischen Cursaal genügt, um sich zu überzeugen, wie es vorzugsweise kräftige Kinder sind, welche von der Skoliose heimgesucht werden.


     2. Gegentheils ist die Skoliose unter den mit wirklicher Muskelschwäche Behafteten – so namentlich den Bleichsüchtigen – durchaus kein auffallendes Vorkommniß.


     3. Findet sich in den Fällen, wo das Gewicht des Kopfes wirklich den besagten Einfluß auf das von schwachen Muskeln gehaltene Rückgrat äußert, eine ganz andere Krümmung, aber keine Skoliose; so beim Greise und beim lebensschwachen Kinde; hier ist die Wirbelsäule stets nach hinten gebogen (Kyphose).


     b) als eine örtliche Muskelschwäche, nämlich der linken

Seite, wobei gegentheils die Muskeln der rechten Seite übermäßig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_374.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)