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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

nicht zu sehr beunruhigte. Hier hielt er sich fest und ließ seine noch scharfen Augen, die des Nachts fast eben so gut sahen als am Tage, über das wild schäumende Meer mit seinem Chaos zerborstener und fortwährend donnernd gegen einander prasselnder Eisschollen schweifen.

Auf allen nicht zu fern gelegenen Warften bemerkte er Licht, ein Zeichen, daß ihre Bewohner sich weniger sicher wähnten, als er selbst mit seinen Angehörigen. Der Windmühle unfern der Kirche hatte der Sturm ein paar Flügel geraubt, auch schien es ihm, als sei das Dach auf Geike Woegens’ Warft stark beschädigt.

Gern wäre er dem Nachbar, der ganz allein mit einer schwächlichen Tochter in seinem Hause lebte, zu Hülfe geeilt. Das war jedoch vorläufig unmöglich, denn nicht nur brauste das Meer sechs bis sieben Fuß hoch über die Hallig fort, es rollten auf den grauschwarzen Wogen auch noch zahllose Schollen schweren kantigen Eises, die selbst das stärkste Fahrzeug wie Glas zermalmt haben würden.

So stand Nicol Mannis lange. Erst als er die Gewißheit erlangt hatte, daß sein Besitzthum diesmal nicht gefährdet werde, zog er sich wieder zurück in den Schutz des Hauses. Das Gewitter näherte sich nicht. Es strich unter außerordentlich heftigem Wetterleuchten mit dem Winde mehr südwestwärts.

In der dritten Morgenstunde brach der Mond in hellem Glanze durch das Gewölk. Die Luft ward bald darauf stiller und als Nicol zum zweiten Male in dieser Nacht sein Lager aufsuchte, hörte er an dem gleichmäßigen Rauschen der Woge- und dem monotonen Anschlage derselben gegen den festen Hügel der Warft, daß die Gefahr vollständig vorüber sei.




IX.
Am Strand von Hooge.

Bei Anbruch des Tages ward es auf allen Halligen lebendig. Noch ging die See hoch und rollte in langen, breiten Wellen über die niedrigen, schutzlosen Erdscheiben. Die Fluth war aber bereits machtlos geworden und man durfte hoffen, daß mit der Tiefebbe alles Land größtentheils wieder frei von Salzwasser sein werde.

Die Westsee selbst bot einen merkwürdigen Anblick dar. Das Bild einer großartigen Naturverheerung lag in unübersehbarer Ausdehnung vor Aller Augen. Die Halligen waren mit unzähligen Eisblöcken übersät, die bald zerstreut und vereinzelt sich zeigten, bald hoch übereinander geschoben zu phantastischen Massen sich emporthürmten. Jede Warft umstarrte ein mächtiger Wall blaugrünen Eises. Da, wo der Fluthstrom mit größerer Gewalt gegen die künstlich aufgeführten Erdhügel angeprallt war, zeigten sich diese unterhöhlt, manche sogar halb zertrümmert. Indeß war doch keine Wohnung ganz zerstört oder vom Sturme umgeweht worden.

Noch chaotischer stellte sich das Binnenmeer dem Auge dar. Die Sturmfluth hatte alle Wasserstraßen zwischen den Watten gefüllt, überall das Eis gebrochen, es hüben und drüben auf den seichteren Stellen angehäuft und die auf den tieferen Strömungen treibenden Schollen mit der Ebbe der offenen See zugeführt. Das ganze Binnenmeer schien mit erratischen Blöcken funkelnden Gesteins besät zu sein.

Der alte Mannis war einer der Ersten, die von ihrer Warft herabstiegen, um die etwaigen Verwüstungen von Wind und Fluth in Augenschein zu nehmen. Sein erster Gang galt dem Vater Geike’s, den er schon beschäftigt fand, das stark beschädigte Dach seines Wohnhauses auszubessern. Als guter Nachbar legte Nicol sogleich selbst mit Hand an. So gelang es den beiden Männern, noch vor Abend den angerichteten Schaden nothdürftig wieder herzustellen.

Der abwesenden jungen Männer ward nicht gedacht. Erst Abends warf eins der Mädchen die Frage hin, wie lange dieselben wohl noch ausbleiben könnten.

„Das hängt von Umständen ab,“ erwiderte Nicol vollkommen ruhig. „Bleibt die Luft mild, wie heute, so wird die Binnensee bald fahrbar sein. In diesem Falle, der mir wahrscheinlich dünkt, dürfen wir sie in zwei, spätestens in drei Tagen erwarten.“

Wirklich blieb auch das Wetter mild. Die Luft war weich wie im April, der Himmel unbewölkt. Es trat fast gänzliche Windstille ein, so daß das Meer sich beruhigte und keine andere Bewegung, als die von Fluth und Ebbe herrührende, zeigte. Die jungen Männer kamen aber nicht zurück.

Karen’s Unruhe steigerte sich zur Sorge, sie wagte aber nicht, dem Vater ihre Befürchtungen mitzutheilen, da dieser selbst von trüben Gedanken gequält zu werden schien.

Als auch der dritte Tag verging und Keiner der jungen Männer sich blicken ließ, machte Nicol seinen Ewer segelfertig.

„Was hast Du vor?“ fragte Ellen.

„Segeln will ich und mich umschauen, ob irgendwo Einer verunglückt ist.“

„Unsere Söhne!“ rief mit thränenerfüllten Augen die geängstete Mutter.

„Darf ich Dich begleiten?“ fragte Karen, die mit Mühe eine Ruhe erheuchelte, von der ihr gequältes Herz nichts wußte.

„Darfst.“

„Und wir, Vetter Nicol?“ fragten die Mädchen vom Festlande.

„Ihr bleibt ruhig auf der Warft, bis wir wiederkommen.“

„Wie lange gedenkst Du fortzubleiben?“ warf Ellen hin.

„Weiß ich nicht.“

„Und wohin willst Du segeln?“

Mannis deutete mit vielsagendem Blicke nach Norden.

Die Zurückbleibenden gaben Vater und Tochter das Geleit bis an den Strand. Mannis hißte die Segel auf, drehte ab und fuhr mit stummem Abschiedsgruße hinaus in die Wattensee.

Sein Ziel war Amrom. Er erreichte die Insel nach einigen Stunden. Unterwegs entging seinem scharfen Auge nichts, was ihn interessirte. Namentlich achtete er auf die zusammengeschobenen Schollen, die hie und da auf den Sanden festsaßen, und von der jetzt nur schwachen Fluthwoge noch nicht überall zerstört waren. Trümmer eines zerschellten Fahrzeuges, die nach vorangegangenem Sturme ein paar Tage später von den Wellen gewöhnlich an’s Land gespült werden, begegneten dem alten Halligmann nicht.

In der Ortschaft Nebel auf Amrom fand Nicol die ersten Spuren der Vermißten. Hier erfuhr er auch, daß die Gesellschaft aus zehn kräftigen Männern bestanden hatte, von denen vier mit Büchsen bewaffnet gewesen waren. Am Morgen nach der Sturmnacht fanden auslugende Schiffer einen getödteten Seehund am Fuße der Dünen. Die Amromer nahmen deshalb an, daß die Jäger, deren Abzug nach den Dünen kein Geheimniß geblieben war, ihre Beute beim Ausbruch des Unwetters aufgegeben und sich nach Süd- oder Norddorf zurückgezogen hätten.

Mannis machte sich ungesäumt mit seiner Tochter auf den Weg, um die bereits entdeckten Spuren seiner Söhne und ihrer Begleiter weiter zu verfolgen. Er durchwanderte die ganze Insel, erkundigte sich überall nach den Verschwundenen, erhielt aber nirgends eine beruhigende Antwort. Weder im Süden noch im Norden waren die jungen Männer gesehen worden!

Eine große Niedergeschlagenheit bemächtigte sich jetzt des alten Seemannes, doch sprach er seinen Schmerz nicht in Worten aus. Er hatte zu viel Furchtbares erlebt auf seinen Reisen, um sich selbst von dem entsetzlichsten Unglücke ganz niederbeugen zu lassen. Am meisten schmerzten ihn die Klagen Karen’s, die sich gar nicht mehr zu fassen wußte.

Mannis blieb eine Nacht auf Amrom. Am andern Morgen segelte er nach Föhr, um auch dort seine Nachforschungen wieder aufzunehmen. Der Erfolg war kein glücklicher.

„Nun ist es Zeit, heimzukehren,“ sprach er darauf entschlossen zu seiner Tochter. „Man wird uns daheim alsbald brauchen.“

Ruhig und kalt lichtete er wieder den Anker und steuerte westwärts in die Norder-Aue. Bei Seesand-Steert bog er in die Süder-Aue ein und hielt gerade auf Knudshorn, um mit auflaufender Fluth das Jap zu gewinnen.

Ueber Heverknob’s Westbrandung stieg eine Wolke schreiender Seevögel auf und nieder; eine zweite, noch dichtere gewahrte Mannis weiter südlich auf Backsand, er schenkte diesen Vogelgeschwadern aber keine große Aufmerksamkeit, da es täglich vorkommende Erscheinungen über Untiefen sind, wo das Meer eine Menge Fischleiber und todter Schalthiere auswirft,’welche den Seevögeln zur Nahrung dienen.

Die Sonne übergoß die Warften mit purpurner Gluth, als Hooge nur noch ein paar Büchsenschüsse weit von dem schnellsegelnden Ewerschiffe Mannis’ entfernt lag. Rechts von dem Schlütt gewahrte der alte Capitain einen Menschentrupp, unter denen zwei Drittheile Frauen waren. Auch Karen fiel diese Versammlung der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_371.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)