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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Glanz des Mondes würden sie schwer die Pfade gefunden haben, die in zahllosen Krümmungen sich über die zugefrorenen Watten schlängelten. Als ein paar Stunden vor Sonnenaufgang der Mond unterging, lag die schwierigste Wegstrecke hinter ihnen, und bald darauf betraten sie die östliche Küste von Langeneß.

Auf dieser Hallig erwarteten sie den Tag. Einige Jugendfreunde der Gebrüder Mannis schlossen sich den Wanderern an, um Vergnügen und Gefahren derselben zu theilen. Die Gesellschaft bestand jetzt aus zehn Personen. Von diesen waren die Langenesser mit Büchsen bewaffnet, weil sie am Strande von Amrom Seehunde anzutreffen hofften, die in der Westsee in ziemlicher Anzahl vorkommen und von den Halligbewohnern häufig erlegt werden.

Unter Scherzen und Lachen zog die kleine Karawane weiter. Die mühsam zu beschreitenden Eispfade gaben zu allerhand Bemerkungen Anlaß, und boten nicht selten Gelegenheit dar, den entschlossenen Muth und die körperliche Gewandtheit der jungen Leute in das hellste Licht zu setzen. Bald gab es übereinander geschobene zackige oder spiegelglatte Eisblöcke zu erklimmen, bald mußte über gefährliche Spalten gesetzt werden, bald brach man durch weißliches Schneeeis, das eine hohle Brücke bildete, und durch sein Aussehen auch die Erfahrensten täuschen konnte. Häufig hörten die Wanderer fern und nah ein knatterndes Geräusch, die Eisdecke bebte, ein dumpfes Gurgeln ward vernommen, und gleich darauf zerklüftete unter heftigem Krachen die unebene Brücke.

Schon vertraut mit diesen Erscheinungen, empfanden die eingebornen Halligmänner keine Furcht darüber. Nicht einmal beunruhigt zeigten sich diese unerschrockenen, an Gefahren aller Art und an ununterbrochene Kämpfe mit den Elementen gewöhnten Naturen. Die Festlandsfriesen blieben ab und an lauschend stehen, nicht aber aus Furcht, sondern nur, um die für sie neuen und deshalb interessanten Erscheinungen genauer beobachten zu können. Der jüngste Vetter, Hendry, that es sogar manchem seiner Begleiter zuvor. Er war beinahe immer voran, unermüdlich, der Heiterste von Laune, der Keckste, wo es galt, rasch einen Entschluß zu fassen und ihn eben so schnell auszuführen. Ja, seine Keckheit artete bisweilen dergestalt in verwegenes Wagen aus, daß selbst seine Vettern ihn zu warnen für Pflicht hielten.

Es dämmerte schon, als die Gesellschaft die Häusergruppen auf Westerlandföhr mehr und mehr aus dem kalten Nebel auftauchen sah. Die hohen Spitzen der St. Johannis- und St. Laurentiuskirche hatte sie nie aus dem Gesicht verloren. Sie dienten den Fußwanderern ebenso wie in der guten Jahreszeit den Schiffern als sichere Wegweiser.

Die späte Tagesstunde und die große Anstrengung geboten den Männern, auf Föhr zu bleiben. Alle bedurften nach den überstandenen Strapazen der Ruhe. Auch wäre selbst bei hellem Mondschein die Ueberschreitung der mit Eis bedeckten Watten und Priehle für Alle ein höchst gefahrvolles Unternehmen gewesen, da auch den Uthlandsfriesen die jetzt vor ihnen liegenden Eisstege nicht bekannt waren.

Taken schlief unruhig trotz der Ermüdung. Er mußte immer an seinen Vater denken. So oft er die Augen schloß, sah er regelmäßig im halben Traume den alten Mann, wie er mit ernsten, besorgten Zügen auf der Warft stand, und westwärts nach der See hinausblickte. Dies immer von Neuem wiederkehrende Traumbild beunruhigte ihn oder störte doch seine unbefangene Heiterkeit. Etwas trug wohl auch das Pfeifen des Windes dazu bei, der sich während der Nacht erhob.

Der Anblick von Land und Watten am Morgen war düster. Dunkle Schneewolken bedeckten den Himmel, und ein fahles, schmutziges Roth hing wie ein zerrissener Vorhang im Osten, den Aufgang der Sonne verkündigend. Ihre Strahlen vermochten das Gewölk nicht zu durchbrechen; es ward vielmehr noch dichter, als die Friesen sich zum Aufbruche rüsteten. Um sicher zu gehen, nahmen sie einen bekannten Schlickläufer als Führer mit.

„Das Wetter scheint sich doch ändern zu wollen,“ meinte Taken, als sie die holperige Eisfläche betraten, welche Föhr jetzt von Amrom schied.

„Hm,“ brummte der jütische Einwanderer – denn ein solcher war ihr Führer – „der Wind steht noch.“

Das Gespräch mit dem einsylbigen Menschen ward nicht weiter fortgesetzt. Es wehete stark, bald aus Ost, bald aus Nordost. Die Dünengipfel auf Amrom waren in dem Nebel, der sie einhüllte oder vielmehr aus ihnen aufzubrodeln schien, nicht zu erkennen. Schaaren grauer Möven schwärmten über offenen Stellen im Eise und flatterten schreiend hoch auf, wenn der Zug der Wanderer sich ihnen näherte. Die ganze Gesellschaft schien verstimmt zu sein. Jeder ging für sich, und wechselte kaum einige Worte mit seinem Vor- oder Hintermanne. Gegen elf Uhr ward Amrom erreicht. Der Wind blies jetzt aus Norden, ein feiner Schneestaub rieselte aus dem Gewölk nieder.

„Es kann Sturm geben zu Nacht,“ sprach Jens. „Bei solchem Wetter wird eine Besteigung der Dünen wenig lohnend sein. Ich schlage vor, bis morgen zu warten.“

„Hast Du bange?“ fiel lachend der übermüthige Hendry ein. „Pflege Dich, derweil wir Andern uns von jenen Sandspitzen die mit Eisblöcken spielende Nordsee ansehen wollen.“

„Bange?“ erwiderte fast beleidigt der junge Mannis. „Ich kenne keine Furcht, aber ich bin für eiligen Aufbruch, wenn wir das Unternehmen ausführen wollen.“

Niemand von der Gesellschaft widersprach. Alle brachen auf nach den Dünen. Einzelne Bewohner Amroms sahen den jungen Männern verwundert nach, ein warnendes oder bedenkliches Wort aber entschlüpfte Keinem. Jeder hielt die Fremden für kühne Jäger.

Die Dünen boten das Bild einer gänzlichen Wildniß dar. In den kesselartigen Thälern lag tiefer Schnee, die steilen Gipfel glänzten von Eis, und der immer wilder brausende Wind trieb dichte Wolken eisiger Schneenadeln, mit Sandstaub gemischt, in solchen Massen über sie hin, daß Niemand ein Auge zu öffnen vermochte.

Dennoch ließen sich die abenteuerlustigen jungen Männer nicht abschrecken, ihre Zwecke zu verfolgen. Je nach Lust und Neigung zerstreuten sie sich in den Dünenthälern nach Süd und Nord. Einige, welche die Spuren von Kaninchenbauen entdeckten, die gerade in den Amromer Dünen in großer Menge vorhanden sind, machten es sich zum Vergnügen, die harmlosen Thierchen in ihrer Winterruhe zu stören. Andere kletterten über die am Strande zusammengeschobenen Eisschollen, und suchten nach Schalthieren, noch Andere wagten sich weiter hinaus auf das sehr rissige Eis, und verlockten zu gleichem Wagniß später auch die meisten ihrer Gefährten, als es ihnen glückte, ein paar Seehunde zu entdecken und durch wohlgezielte Schüsse zu verwunden.

Im Eifer der Jagd achtete Keiner mehr der Gefahren, denen sich Alle aussetzten. Die Seehunde waren schwer zu transportiren, und doch wollte man die werthvolle Beute nicht im Stiche lassen. Zwei waren in nicht gar langer Zeit und unter verhältnißmäßig geringen Anstrengungen bereits an’s Land geschafft. Damit jedoch nicht zufrieden, eilten die glücklichen Jäger von Langeneß weiter hinaus. Sie stießen bald auf offenes Wasser; weiter nordwärts aber zeigten sich wieder breite Flächen harten Eises, an dessen weit vorgeschobenen Rändern die Wogen der Nordsee in Schaumsäulen sich brachen. Auf dieser Eisinsel, die man springend erreichen konnte, lagerten mehrere Robben. Den größten erlegte eine Büchsenkugel des geübtesten Schützen. Das getroffene Thier sank unfern der Brandung auf dem eisigen Bette todt zusammen. Es hier den Wellen zu überlassen, kam den muthigen Uthlandsfriesen nicht in den Sinn. Durch Rufe und Zeichen lockte man auch die bereits an den Strand Zurückgekehrten abermals auf die zerbrechliche Eisbrücke. Alle folgten dem Rufe, ohne auf die bedenkliche Bewegung der großen Fläche zu achten, über die jetzt ein Schauer feinen Hagels hinstäubte, den der heulende Nordwest vor sich herjagte.

Nach Verlauf einer halben Stunde war die ganze Gesellschaft am westlichen Rande des Eisfeldes versammelt. Den vereinigten Anstrengungen der kräftigen Männer gelang es, das gewichtige Thier von der schon umbrandeten Stelle fortzuschaffen. Jetzt umschnürte man es mit Stricken, und indem die vier Jäger, deren Eigenthum es ja war, unter lautem Halloh es an den Stricken fortzogen über das Eis, eilten die Uebrigen voraus, um bei einigen schwer zu passirenden Stellen für Erleichterung des Transportes Vorkehrungen zu treffen.

Seltsamer Weise konnten diese den Punkt jetzt nicht wiederfinden, wo sie vom sandigen Strande aus durch einen Sprung die mehrere Fuß dicke Scholle erreicht hatten. Ein breiter Streifen wogenden, brausenden Salzwassers wälzte sich zwischen Scholle und Land, das durch den jetzt in dichten Flocken fallenden Schnee kaum noch in unklaren Umrissen zu erkennen war.

(Schluß folgt.)




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