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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

ganz im Westen schimmerten von höher gebauten Warften einzelne Lichter auf der entfernteren Insel Pellworm. Der Ewer lag, sanft schaukelnd, an sicherem Anker auf dem breiten Meeresschlauche, den die Wattenschiffer „Holmer Fähre“ nennen und welcher in seiner Erweiterung das Fahrwasser der mittleren und neuen Hewer bildet, die zwischen Pellworm und der Hallig Südfall in die Nordsee mündet.

Der Anker saß fest im Grunde. Nicol Mannis näherte sich der Tochter, um das Steuer in einen Riemen zu hängen, damit es sich nicht willkürlich bewegen möge.

„Ein schauerlich-schöner Abend, Vater,“ hub Karen an. „Sieh, wie dort die Watten glitzern und funkeln, als ob sie mit silbernen Geweben überdeckt wären! Und dort, südwestwärts – sieht es nicht aus, als wolle ein unermeßlicher Schwanzstern aus der Tiefe des Meeres heraufsteigen? – Wie das zuckt, blitzt, schillert, im Wasser, auf und über den Wogen! – Kann der Mond im Spiel mit den Wolken solche wunderbare Lichtbilder in die Luft zeichnen?“

„Es sind Möven, meine Tochter, die sich in seinem Lichte baden.“

„Aber der hellweiße Streifen darunter? Das kann doch nicht der Wiederschein des Mondes im Meere sein?“

„Das ist ein Sand,“ fiel Jens ein, der jetzt ebenfalls herankam.

„Rungholt-Sand!“ bekräftigte Nicol. „Ein schlimmer Ort! Schiffer vermeiden ihn gern.“

„Da hat vor alten Zeiten eine Stadt gestanden, die im Meere versunken ist?“ fragte Karen.

„Wie Sodom und Gomorrha,“ versetzte Nicol. „Darum heißen wir’s auch das todte Meer in der Westsee.“

Karen überlief es kalt. War es ein Frösteln der Furcht, das sich ihrer bemächtigte auf dem öden Meere, auf dem jetzt weit und breit kein Nachen, kein Segel mehr sichtbar ward, oder durchschauerte sie der kalte Octoberwind? Sie ergriff den Arm ihres Vaters und zog ihn mit sich fort.

„Es ist doch unheimlich,“ sprach sie, der Cajüte zuschreitend. „Wenn ich ein Schiffer wäre, ich würde mich oft fürchten.“

Nicol lächelte.

„Diese Furcht würde sich bald verlieren,“ erwiderte er. „Sie beschleicht uns Alle, wenn wir die erste Nacht auf der See zubringen. Bald aber gewöhnen wir uns daran und später empfinden wir nichts mehr davon.“

Vater und Tochter stiegen in die Cajüte hinab, Jens blieb allein auf Deck, das er auf- und niederschritt, als müsse er das vor Anker liegende Fahrzeug bewachen.

In dem engen und sehr niedrigen Raume, welcher auf so kleinen Schiffen als Cajüte dient, deckte Karen inzwischen den Tisch, entzündete dann ein Torffeuer in dem winzigen Zugofen, dessen Schornstein beweglich war, um ihn je nach der Richtung des Windes anders stellen zu können, und bereitete Thee. Ihr Vater streckte sich halb liegend in die Coje und schloß die Augen, als wünsche er zu schlafen. Die einförmige Bewegung des Fahrzeuges am Anker, das murmelnde Plätschern der Wellen, die den Kiel umspülten, und die Stille ringsum konnten allerdings dazu einladen. Karen summte während ihres Schaffens ein friesisches Lied, dessen Worte nicht zu verstehen waren. Ueber sich hörte sie die Schritte des auf- und abwandelnden Bruders, der sich dem dunstigen Raume, wo die einzige Thranlampe und der brenzlige Geruch des Torffeuers die Atmosphäre durchaus nicht angenehm machte, so lange wie möglich zu entziehen suchte.

Plötzlich vernahm Karen einen Ruf des Erstaunens. Die Tritte verhallten, es schien ihr, als zittere der Ewer an seinem Kabel, und Nicol, der, wie alle Seeleute, für gewisse Laute ein eigenthümlich scharfes Gehör hatte, erhob sich eilig aus seiner halb liegenden Stellung. Ehe er noch die wenigen Treppenstufen zum Deck hinaufstieg, rief Jens mit starker Stimme seinen Namen.

Nicol antwortete und hob im nächsten Augenblicke den grauen Kopf aus der Luke.

„Was gibt’s?“ fragte er, das Auge nach allen Seiten kehrend. Er gewahrte den Sohn, wie er unfern des Steuers kniete und mit weit vorgebeugtem Kopfe zu lauschen schien.

„Hörst Du nichts?“ lautete die Gegenfrage des jungen Mannes.

Nicol trat dicht an Jens heran. Die Luft war beinahe still, das Meer oder vielmehr der Wattstrom, auf welchem der Ewer vor Anker lag, zeigte nur wenig Bewegung. In weiter Ferne aber, westwärts, verhallte in dumpfem Gesurr das Rauschen der Brandung, die sich an den Schwellen und Gründen vor den Hewer-Mündungen brach.

„Ich höre nichts, als die Brandung,“ sagte der alte Capitain.

„Wirklich? Weiter gar nichts? Auch jetzt nicht?“

Nicol kniete nieder und legte sein Ohr auf den Bord.

„Es sind Glocken, so wahr ich lebe!“ betheuerte Jens.

„Glockengeläut? Und hier?“

„Und der Schall kommt von Westen her! – Jetzt, wie laut – wie helltönend! Hörst Du’s, Vater?“

„Ich höre.“

„Die Glocken von Hooge sind’s nicht.“

„Auch nicht die von Pellworm.“

„Und auf Föhr kann das Geläut’ auch nicht sein.“

„Nein!“

„Der Schall kommt mir gar nicht bekannt vor.“

„Ich kenne ihn.“

„Dann weißt Du, wo man so spät noch die Glocken läutet?“

Nicol stand auf. Er sah geisterbleich aus und zum Erschrecken ernst. Seine Hand deutete nach dem Meere.

„Die Glocken von Rungholt sind’s, mein Sohn,“ sprach er mit halblauter, zitternder Stimme. „Selten nur hört ein Lebender das unterseeische Geläute, wenn es aber des Nachts über den Wogen verhallt, dann gilt’s den Uthlandsfriesen. Die in eitler Lust, frevlem Hochmuth und sündhafter Schwelgerei versunkenen Rungholter müssen die Glocken läuten, wenn den Ueberresten ihrer ehemaligen irdischen Wohnstätte Unheil droht. Wir gehen einem verhängnißvollen Winter entgegen.“

„Hast Du dies Geläut’ schon einmal vernommen?“

„Es vernahmen’s alle Schiffer der Halligen im Herbst vor der letzten fürchterlichen Sturmfluth.“

„Vater!“ rief jetzt Karen und das vom Feuer geröthete Gesicht des Mädchens blickte aus der Luke.

„Still!“ gebot Nicol dem Sohne. „Das Kind soll nichts erfahren. Sie trägt ohnehin schon Sorge genug um Geike. – Gleich, mein Kind,“ fuhr er unbefangen fort, „wir kommen schon. Steig’ wieder hinunter und nimm die Rumflasche aus dem Raume. Der Nachtwind hat mich tüchtig durchkältet.“

Karen war schon wieder in der Lukenöffnung verschwunden. Vater und Bruder folgten und bald saßen alle Drei bei dem mehr als frugalen Mahle, äußerlich munter, im Herzen ernst gestimmt. Von den Geisterklängen der Glocken von Rungholt, die über dem surrenden Meere verhallten, war mit keiner Sylbe die Rede.




VI.
Strenger Winter.

Der friesische Winter ist in der Regel milder als der deutsche. Tritt auch zeitweilig starke Kälte ein, so dauert sie doch in Folge der häufig wechselnden Winde selten längere Zeit. Die Westsee- Inseln erfreuen sich deshalb eines sehr gemäßigten Klima’s, was trotz ihrer nördlichen Lage den Aufenthalt auf ihnen angenehmer macht, als man annehmen sollte. Dennoch aber kommen von Zeit zu Zeit Winter vor, in denen die Kälte einen hohen Grad erreicht und die wildesten Schneestürme auf dem Wattenmeere wüthen. Dann friert der Binnensee, d. h. jener Theil des Meeres, der die Inseln und Halligen gegen das Festland hin umfluthet, fest zu und die Bewohner derselben überschreiten die meilenbreite Krystallbrücke zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen, um mit dem Festlande in engere Beziehungen zu treten.

Ein solcher Winter stellt sich nur im November ein. Wenige Tage nach Mannis’ Heimkehr lief der Wind nach Norden. Einem mehrstündigen Sturme, welcher alle Halligen viele Fuß tief unter Wasser setzte und manches Menschenleben kostete, folgte undurchdringliches Schneegestöber mit rasch steigender Kälte. Die Schlütte bedeckten sich mit Eis, das sich auf die Priehle erstreckte und alsbald auch die tieferen Wattströme mit schwer treibenden Schollen erfüllte. Der hohe Kältegrad, verbunden mit häufigem Schneefall, fügte Scholle an Scholle, bildete Eishügel und Schneedämme und lange vor Weihnachten glich die ganze Westsee mit ihren zerstreuten Inselbrocken einer großen, mit zahllosen Hügeln und wunderlich gestalteten Blöcken besäeten Ebene. Man konnte ohne Gefahr vom Festlande nach den Inseln gehen, die wieder durch Pfade über das

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