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verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

blos ein Spitzlein herausragend – das war, sammt Umgebung, Wien und seine stolze Riesendomzinne.

Mein Eindruck war wahrhaft Bangen und Schrecken. In jener Atmosphäre athmen siebenmalhunderttausend Menschen, lebte auch ich! In jener qualmdicken Luftschicht wachsen Hunderttausende kleiner Wesen groß – sollen und mögen all werden – lechzen Tausende von Kranken um Genesung und herzerquickende Luft! – Es war wahrhaft peinlich; das Bild des Tisches mit dem Spitzlein blieb mir – ein „besteckter“ Tisch im großen Gasthof der Schöpfung, auf dem die Gäste allmählich den Tod zehren. – In dieser Pein schwellte ich doppelt so stark meine Brust, um den reinen, herrlichen Aether, in dem ich schwamm, mit vollen Sehnsuchtszügen in mich zu saugen. Ich konnte mein Auge lange nicht von dem länglichen, dicken, flachen Dunstkreis wenden.

Das waren siebenmalhunderttausend Herzen – Menschenherzen! – Das trieb und drängte im selben Augenblicke nach seinen hohen Zielen, da unten; das gebar eben und starb, hochzeitete und begrub, sah neidisch auf ein Kleid, auf ein Equipage-Würmchen, ein Haus – haha! Gelächter! Gelächter! Herr Berg thut gut, zwei geladene Taschenpistolen vor der Fahrt zu sich zu stecken – er weiß nicht, was aus seinem Gefährten für ein toller Geselle wird, und ihm eine Kugel in’s wirre Hirn ist besser, als mit ihm zerschmettert zur Erde gehen, in dem Glauben, wir seien Alle nur schrecklich komische Ameisen in einem verdammt muffligen und ekligen Ameisenhaufen!

Und denken Sie sich etwa – so ein blutiges, klaffendes Haupt, so eine wundgerissene, aufgeschlitzte Brust da oben in den Lüften hoch hinschweben, leise, lautlos über Allen hingetragen, vom Ballon wie von einer Riesenhand zum Himmel stumm klagend hinaufgezeigt – die blassen Wangen, die erbleichten Lippen, die eingesunkenen Augen – denken Sie sich diesen Sommerfaden eines vergangenen Lebens, den Sterbenden oder die Leiche überhangend da hinziehen nach den Sternen und den hereinhangenden Wolken – das heiße Blut rieselt in schweren, langen Tropfen da hinunter auf die Erde – ein rother, brennender Thau – vielleicht auf eine Hand, die zuckt und erbebt und …

Doch fürchte Niemand – ich lebe und bin gesund, und die Taschenpistolen haben wir sehr gemüthlich mit einander auf Erden entladen.

Wollte ich einen schlechten Witz machen, würde ich sagen: von ganz Wien sah ich da nur ein „Spitz’l.“ – Aber wahrhaftig, die Zeit ist vorüber, wo das träfe, und indem ich dies dachte, lächelte ich wieder über mich selber und alles Andere, und breitete segnend über das geliebte Vaterland die Hände!

Ueber der grünen Saat des ewig theuern Kampffeldes war nur schwer unser Fortkommen zu bemerken; nur ein verschwindendes Dorf, eine große, grüne entronnene Fläche, das waren unsere Kennzeichen und Wegezeichen. Ich hatte schon lange einen Druck in den Ohren empfunden, wollte aber nichts sagen, und hatte nur immer „noch höher! noch höher!“ gerufen und Sand ausgeworfen. Ich hätte gar zu gern wenigstens die Bekanntschaft der „Venus“ gemacht.

Doch der Ballon hegte irdische Neigungen, und begann endlich allmählich etwas tiefer zu gehen. – Plötzlich, nach einiger Zeit war es mir als wie im Bade, wenn sich das wasserverhaltene Ohr von seinen Banden löst, das Wasser sinkt und man mit Vergnügen wieder, wie in einer neuen Welt, zu hören beginnt. Das war ganz ähnlich, nur ohne jene begleitende Wärmeempfindung. Ich lauschte fast mit Entzücken – und horch! wir schwammen über einem Meere von Gesang – erst leise ziehender, dann immer deutlicherer, hellerer, reinerer Töne!

Es war Abend, und die Lerchen gingen zu Neste. Jedermann weiß es, daß sie den trauten Ort lange umschwirren, sich abermal und abermal erheben, und hoch in den Lüften ihr Lied schmettern. Der Wandelnde auf Erden sieht in die staunenswerthe Höhe empor, und bemerkt einen zitternden Punkt, die Lerche. Wie oft that ich das! Hier aber hatte ich nun die gefiederten Sänger tief, tief unter mir, und so wie ich dahinzog über ein förmliches Netz von Sängern, über einen wahren See von entzückenden Klängen – dazwischen schlugen auch Wachteln den Takt – und so viel ich mir dabei Mühe gab, einen Vogel zu entdecken, es war vergebens.

Entzückender, seliger Augenblick! Ein Märchen von tausend und einer Nacht, ein unsichtbarer, paradiesisch tönender Sängerchor, ein schmerz- und müheloses Gleiten über diese Sangeswogen dahin – jetzt erst erfaßte ich die ganze Wonne des Vogelsanges – ich vergesse das mein Lebelang nicht! Vielleicht hört man im Himmel aus allem Gewirre der Welt blos diese Lieder, und läßt sie darum dauern. Und das Alles tönte über dem Grunde, den Deutsche, den Heimathshelden mit ihrem Blute gedüngt. Es war mir, als würden die Liederseelen wach, und zögen die Sangesgeister leise, sanft klingend über den grünenden, üppigen, seligen Gräbern.

Langes, entzücktes, überseliges Dahingleiten. – Ich empfand wahrhaft, wie in höhern Regionen.

Und nun endlich – nach geraumer Weile – tiefer. Und nun deutlicher Häuser und Saaten und die Menschen und die frühern Wagenpunkte. Dorfbewohner zu Wagen fuhren von ihren Feldern schon in aller möglichen Eile der Gegend zu, wo sie unser Niederkommen vermutheten. Die Guten hatten vergebens ihre Gäule anzustrengen, der Horizont täuscht gewaltig.

Aber was mich bald in aller höhern Stimmung lachen machte – waren die Hasen. Wir waren noch in solcher Höhe, daß wir die hohen Fruchthalme sahen wie aus der Erde gekeimte Saatspitzen, und schon hatten die Hasen das hoch über ihnen schwebende Ungethüm erblickt, und liefen die Meister Lampe in merkwürdiger Menge und Verwirrung kreuz und quer durch die Gauen, im buchstäblichsten Sinne das berühmte Hasenpanier ergreifend!

Da wir aber sahen, daß wir in Saatfelder kämen und bedeutenden Schaden anrichten würden, warfen mir den letzten Ballastsack aus – wir hoben uns blitzschnell wieder – noch ein entzückendes Aufleuchten der Wonneflamme – wir schwebten in Kurzem in der Nähe eines Dorfes und sahen nicht fern eine brach liegende Fläche. Ein bedeutender Wind fing an, sich zu heben; wir durften nicht lange laviren – glücklicher Weise trug er uns dem erwünschten Ziele entgegen, und aus dem Ventil entbrauste das frei gemachte Gas. Wir strichen quer über die große Landstraße – ich entdeckte einen Wanderer, der mir noch immer keine Beine zu haben schien, höhlte meine Hände und schrie mit aller Kraft festgefügter Lungen: „Wo – sind – wir!?“ Nach mehrmaligem Rufen verstand der gute Mann oder errieth, was wir wollten und freuete sich, so seltsamen Reisenden Auskunft geben zu können. Er schrie mehrmals mit aller Anstrengung, und ich hörte endlich „Gerasdorf!“ Das war vier Stunden von den, Orte unserer Ausfahrt.

Nochmalige zahlreiche Hasenretraite – der günstige Wind trieb uns weiter in’s Brachfeld. – Den Anker hinaus! – Er strich am langen Seile dahin, und faßte endlich an einem Rain. Zwei Bauern, die schon eine geraume Strecke nachliefen, faßten unsere ausgehängten Seile – wir zogen mit aller Kraft am Ventile - die Dorfbewohner, die schon eine Viertelstunde ihre Beine tüchtig ausgeholt hatten, gelangten endlich in’s Feld hinaus, griffen nach den ausgeworfenen Seilen, und hielten das Ungethüm. Wir waren im Menschenkampfe und – erschrecken Sie nicht, wenn ich es sage, denn ich schreibe ja noch hinterher – auf dem Schlachtfelde von Aspern und Wagram gefallen! – Seliges Zugrundegehen!

Was soll ich die Leser mit der Beschreibung unserer nun beginnenden Arbeit auf Mutter Erde, mit der Zähmung des Ballonungethüms und der Landleute Hinhalten, die erschreckt losließen und davonliefen, wenn sie der seidene dickleibige Koloß ein wenig in die Höhe riß?

Kaum waren wir auf der Erde, so erhob sich ein heftiger Wind, und fünf Minuten länger hätten uns wer weiß wohin getrieben, das Niederlassen auf unbestimmt unmöglich gemacht, und in der Stadt hegte man bereits Besorgnisse. Der Ballon lag nach einer guten halben Stunde, wie ein Wäschbündel zusammengerollt, schwer auf dem Boden; – es war bereits dunkel, die Dorfbewohner gingen mit ihrer Entschädigung in’s Wirthshaus, und brachten einen Leiterwagen auf, der uns aus der unabsehbaren, bereits sternbedeckten Ebene zur Erquickung nach dem Dorfhotel und dann nach der Stadt führte.

Denken Sie: mit einer so seltenen, stolzen und hohen Equipage hinaus und mit einem Leiterwagen herein! Ja, ja, wir waren tief gesunken und ganz herabgekommen! Anderthalb Stunden hatten wir uns süß in der Luft gewiegt, vier volle Stunden stolperte uns der Wagen über die Erde und rüttelte uns vollends auf dem Pflaster die schwelgerischen Seelen hübsch prosaisch zusammen.

Aber wenn das ganze Lebensgeschick an mir rüttelt und zerrt und meine Seele zerarbeitet, im letzten Momente wird mich die Erinnerung ganz und wonnig heben und entzücken. – Wie wär’s - sterbend in dem Ballon und emporgetragen, hinauf, hinauf in den Aether, dahinschwebend - - höher – höher!

Doch der Wagen rüttelt und zerrüttelt mir fast den Witz: so hoch hat es noch kein deutscher Schriftsteller gebracht und noch weniger durch Parteinahme mit dem „Berg!“ – Das Alles ist ganz oder auch nicht im mindesten aus der Luft gegriffen, wie Sie wollen!

Der Ballon, zur Krönung des russisches Kaisers gefertigt, hieß „Moskau“; ich und Napoleon hatten durch Kaiser Alexander also einen ganz gleichen Rückzug von Moskau!




Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1858, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_356.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)