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verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 24. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Vorgesichte.

Strandnovelle von Ernst Willkomm.
(Fortsetzung.)

„Ich weiß nicht, ob ich dem Manne eine Antwort gegeben habe. Die Zunge klebte mir am Gaumen und ich glaube, meine Hand zitterte, als schüttelte mich ein Fieber. – Es war in der That das Gesicht, die Tracht, die ganze Figur des Mannes am Steuer. – Die drei Leichen trieben eine nach der andern längs dem Schiffe fort, etwas schneller als dieses segelte. Da rief der Mat auf Wache: Cap’tain! Wie ich mich umkehrte, sah ich den Mann am Bugspriet knieen und in die See hinabstieren. Ich ging zu ihm.“

„Kennt Ihr den Burschen, Cap’tain,“ sagte der brave Junge, „der sich jetzt gerade am Bug zu so unpassender Zeit im Salzwasser badet? Wenn’s nicht ein verfluchter Wechselbalg ist, bin ich’s – Gott verd– mich, selber!“

„Entsetzlich!“ lispelte Karen.

Eine neue Bö rüttelte an dem Hause und klappte mit der äußern, nicht fest schließenden Thür.

„Der Bursche sah recht, wie der Mann am Steuer,“ erzählte Nicol weiter. „Das Gesicht des dritten Mannes war mir nicht bekannt oder ich konnte die Züge desselben nicht deutlich erkennen. Wohl aber wußte ich, daß wir die Reise nicht ohne Unfall zurücklegen würden.“

„Es war ein Vorgesicht,“ sprach jetzt eine wohltönende Stimme, die von der Thür herkam, deren Oeffnen die aufmerksam Zuhörenden nicht bemerkt hatten. „Solche Zeichen gibt’s, ich weiß! Der Himmel schickt sie uns, daß wir uns bei Zeiten vorbereiten und unsere irdischen Angelegenheiten in Ordnung bringen sollen. Mein Vater und Großvater hatten bei allen wichtigen Vorkommnissen in ihrem Leben Vorgesichte.“

Karen war längst aufgestanden, um den späten Gast, einen jungen Mann, der eben vom Steuermanne zum Capitain avancirt war und noch vor Ende October die Führung eines holländischen Schiffes nach Ostindien übernehmen wollte, zu begrüßen.

„Du kommst spät, Geike,“ sagte das junge Mädchen. „Ich glaubte schon, Du würdest heute gar nicht nach mir fragen.“

Geike Woegens drückte Karen an seine Brust. Dann reichte er deren Eltern und Brüdern die Hand zum Gruße. Es war der Verlobte der Tochter des Hauses.

„Hast Du gelauscht?“ fragte Nicol lächelnd.

„Fast eine ganze Minute,“ erwiderte eben so Geike. „Deine Zuhörer verschlangen Deine Worte ja mit solcher Andacht, daß es grausam gewesen sein würde, hätte ich sie gestört. Nun fahr’ aber fort, Vater Nicol, damit wir hören, wie die Sachen ausliefen.“

„Du hast es schon ausgesprochen,“ erwiderte der alte Capitain. „Es war ein Vorgesicht und es erfüllte sich, ehe das Jahr zu Ende ging. Der „indische Nabob“, mein prächtiges Fregattschiff, kehrte mit reicher Ladung aus Brasilien zurück. Bei den Azoren überraschte uns mit Blitzesschnelle, mitten in der Nacht, der Orkan. Ehe es möglich ward, die Segel zu reffen, hatte die Wucht des Sturmes mein Schiff schon auf die Seite gedrückt. Eine fürchterliche Woge spülte darüber hin. Es hob sich zwar wieder, nun aber splitterte ein zweiter Stoß den Fockmast. Er brach und fiel über Bord mit allem Tauwerk, das ihn hielt. Da war keine Rettung mehr; der große Mast und der Besahn folgten mit sammt dem ganzen Schiffsrumpfe. Ihrer Zwölf retteten wir uns auf die strudelnden Trümmer. Wir wurden wunderbar erhalten. Während der ganzen ersten Nacht aber trieben auf dem wild brüllenden Meere drei Leichen mit uns, ganz so, wie ich sie gesehen hatte in der spanischen See. Die eine war mein Steuermann, der Ostfriese, die andere der Mat, der in jener Nacht die Wache hatte. Die dritte Leiche gehörte dem einzigen Passagiere an, den wir in Rio an Bord genommen. Es war ein Kaufmann aus Portugal, der in sein Geburtsland zurückkehren wollte. Wie er hieß, weiß ich nicht. Ich hatte nicht nach seinem Namen gefragt.“

Die Zuhörer saßen einige Minuten lang still, Nicol Mannis heftete seine blaugrauen klaren Augen auf das Wrack des Schiffes, bei dessen Untergange das eben Erzählte begegnet war. Taken brach zuerst das Schweigen.

„Ist Dir schon ein Wiedergänger[1] vor Augen gekommen?“ fragte er den ernst gewordenen Vater.

„In meinen jungen Jahren glaub’ ich deren zwei gesehen zu haben,“ versetzte dieser.

„Hier oder anderwärts?“ fiel Jens ein.

„Wiedergänger gibt’s nur in der Westsee,“ sagte Nicol. „Die junge Welt und die Festlandsmenschen spotten zwar darüber, aber die Sache hat und behält dennoch ihre Richtigkeit. Es lebt auf allen Inseln und Halligen kein Seemann, der nicht in seinem Leben einem Wiedergänger begegnet wäre. Mein Vater sah seinen eigenen Bruder nach vielen Jahren wieder, als er am Strande allein spazieren ging, und mich besuchte der treueste Freund meiner Jugend. Er kam um in einem Sturme, der das Schiff, auf dem er als Vollmatrose diente, an die Godwin-Sands schleuderte.“

„Wie begegnete er Dir?“ fragte Taken.


  1. Wiedergänger nennen die Uthlandsfriesen Ertrunkene, welche dem Volksglauben zufolge ihren Anverwandten und Freunden, triefend von Wasser, später und oft erst nach Jahren, begegnen.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1858, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_345.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)