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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

von jedem Verdachte gereinigt. Nach den Aeußerungen des Grafen glaubte ich annehmen zu müssen, daß auch die Gräfin Ruthenberg nicht ganz frei von Verdacht gegen ihre Gesellschafterin sei. Wenn die junge Dame aber wirklich schuldig war, mußte dann nicht über kurz oder lang – schon bei jenem gegen sie vorhandenem Verdachte – dennoch eine Untersuchung gegen sie eingeleitet werden, in der wohl ihr Verbrechen zum Vorschein kam, die zu ihrer Entschuldigung gereichenden Umstände aber desto mehr durch den Ablauf der Zeit verdunkelt blieben?

Mir blieb keine Wahl; ich mußte meinen ersten Entschluß ausführen, machte an demselben Abende meinen Plan und schritt gleich am folgenden Morgen zu seiner Ausführung.

Ich fuhr mit dem erforderlichen Beamtenpersonal, einem Actuar und mehreren Criminalboten, nach Turellen. Ich sagte ihnen nichts über den Zweck der Reise, ließ sie auch in dem nächsten Dorfe vor Turellen zurück, mit der Anweisung, sich nicht kund zu geben, weder zu sagen, wer sie seien, noch woher sie kämen, und fuhr allein zu der Gräfin.

Das Schloß Turellen zeigte schon in seiner Umgebung eine für jene Memelniederung ungewöhnliche Eleganz.

Das Haus war zwar gebaut, wie die meisten Schlösser und Landhäuser der Gegend; es hatte nur eine Etage, ein hohes Parterre; dafür war aber seine Länge eine desto größere. In der Mitte war das Dach erhöht und in dieser Erhöhung befand sich noch eine Reihe Zimmer. Das Ganze war von einem parkähnlichen Garten eingeschlossen, der mit sehr großer Sorgfalt erhalten war und in dem lange Reihen Glasfenster von Treibhäusern in der Sonne glänzten. Auch im Innern des Hauses zeigte mir Alles, daß ich in dem Aufenthalte einer Dame war, die in der großen Welt gelebt und deren Genüsse, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten nicht vergessen hatte.

Ich ließ mich bei der Gräfin melden und wurde sehr bald zu ihr geführt. Ich hatte mir – wohl unwillkürlich – ein bestimmtes Bild von ihr gemacht. Eine im Alter etwas corpulent gewordene Dame, mit deutlichen Spuren ehemaliger Schönheit und mit – als Spur ihres früheren galanten Lebens – einer gewissen Leichtfertigkeit oder Ungenirtheit des Benehmens, die an die Frivolität ihres Bruders wenigstens erinnerte.

In allem Jenem hatte ich Recht gehabt, aber nicht in diesem Letzteren. Ich hatte das Weib nach dem Manne beurtheilt, und das ist immer falsch. Wo der Mann an den Schein nicht denkt, da lebt das Weib nur im Scheine. Es kann auch nicht anders. Erst das Weib, das vollständig mit der Welt, mit Tugend, Ehre, Leben gebrochen hat, kann ihm entsagen; dann liegt es aber auch bei hellem Tage im Straßenkothe.

Die Gräfin Ruthenberg war jene etwas corpulente, aber noch sehr schöne Dame; ihre elegante, aber einfache Toilette hob ihr Alter. Man konnte sie für eine Vierzigerin halten, sie zählte sechzig Jahre. Aber der Ausdruck ihres schönen Gesichts und ihr Benehmen entsprachen dem zuletzt genannten Alter. Sie war ernst, würdig, gemessen, kalt, fast streng. Darin also hatte ich mich vollständig getäuscht; aber ich sollte mich nur noch mehr in ihr täuschen.

Daß sie eine kluge Frau war, zeigten Stirn und Augen. Sie war sogar klüger, als ihr Bruder, weil sie gemessener, zurückhaltender war, freilich, wenn seine Offenheit nicht zu jener Sprache der Diplomatie gehörte, welche die Gedanken verbergen soll.

Die Gräfin empfing mich in einem Gartensalon. Ich mußte bei ihr von vornherein mit meinem Zwecke hervortreten, wenn ich ihn nicht ganz verfehlen und mich zudem in ihren Augen lächerlich machen wollte. Die kluge Frau hatte ihn wahrscheinlich schon errathen, als sie nur meinen Namen gehört hatte.

„Gnädige Frau, die Ausübung meiner Amtspflicht zwingt mich, Sie mit meinem Besuche zu belästigen.“

Sie war trotz ihrer Gemessenheit höflich, selbst verbindlich.

„Ein freiwilliger Besuch von Ihrer Seite würde mir angenehmer gewesen sein. Indeß, mein Herr, seien Sie mir auch so willkommen. Was haben Sie mir mitzutheilen?“

„Vor einiger Zeit hat Ihr Neffe, der Graf Paul Ruthenberg, sich ungefähr vierzehn Tage bei Ihnen aufgehalten?“

„Gerade vierzehn Tage.“

„Er verschwand in einer Nacht plötzlich?“

„Plötzlich, mein Herr.“

„Sie haben seitdem auch keine Nachricht, keine Spur von ihm?“

„Keine Nachricht und keine Spur.“

„Haben Sie auch keinen Verdacht über den Grund und die Art seines Verschwindens?“

„Mein Herr, erlauben Sie mir, eine Frage an Sie zu richten?“

„Ich stehe zu Befehl.“

„Setzen Sie das Verschwinden meines Neffen mit einem Verbrechen in Verbindung?“

„Ich nicht, gnädige Frau, aber das Gerücht, ein Gerücht, das mir amtlich angezeigt ist und das ich daher so viel als möglich weiter verfolgen muß.“

„Nach Ihren Gesetzen?“

„Nach unseren Gesetzen.“

„Auch auf die Gefahr hin, ohne allen Grund Personen zu beunruhigen, gar zu compromittiren?“

„Gnädige Frau, ich bin hierher gefahren, blos als wenn ich mir die Ehre geben wollte, Ihnen meinen Besuch zu machen. Außer Ihnen selbst kennt Niemand den Zweck meiner Anwesenheit hier und nur von dem, was Sie die Güte haben werden mir mitzutheilen, hängt es ab, ob noch irgend Jemand anders in der Welt erfahren soll, was mich hierher geführt hat.“

„Sie üben Ihr Amt mit Rücksicht aus, mein Herr. Daß Sie es auch gegen mich thun, dafür bin ich Ihnen aufrichtig dankbar. Zum Beweise meiner Dankbarkeit werde ich völlig offen gegen Sie sein.“

„Ich darf also um Antwort auf meine Frage bitten?“

„Sie fragten, ob ich einen Verdacht habe?“

„Ja.“

„Ich habe keine Ahnung eines Verbrechens.“

„Und wie erklären Sie das Verschwinden Ihres Neffen?“

„Die Zeit muß es aufklären. Bis jetzt ist es mir allerdings unerklärlich.“

„Und dennoch glauben Sie an kein Verbrechen?“

„Nein, mein Herr.“

„Darf ich fragen, gnädige Frau, woraus Ihr Hauspersonal besteht?“

„Aus meiner Dienerschaft.“

„Und diese?“

„Ich habe eine Gesellschafterin, einen Haushofmeister, sechs Bedienten, drei Kammerjungfern, zwei Kutscher. Wollen Sie auch das Küchenpersonal wissen?“

„Vorläufig nicht. Sie haben auch einen Jäger?“

„Einen Förster eigentlich; zu meinem Gute gehören bedeutende Waldungen. Aber der Mann gehört nicht zu meinem Hauspersonal.“

„Sondern?“

„Er wohnt mit seiner Familie etwa zehn Minuten vom Schlosse, dort hinten im Walde.“

„Der Mann hat Familie?“

„Eine erwachsene Tochter.“

Ich stutzte; der diplomatische Graf hatte von einem eifersüchtigen Jäger gesprochen. Hier mußte irgend eine Verwechselung vorliegen. Und doch fiel es mir so eigenthümlich, mit einer so sonderbaren Ahnung auf, als ich von der Existenz eines Försters hörte, der mit seiner erwachsenen Tochter in der Nähe des Schlosses, im Walde wohnte. Einen Grund, eine bestimmte Richtung meiner Ahnung konnte ich mir auf der Stelle nicht klar machen. Aber ich mußte den entdeckten Umstand weiter verfolgen.

„Wohnt der Förster allein im Walde?“

„Seine Wohnung ist das einzige Haus darin.“

„Wie ist der Charakter des Mannes?“

„Er ist ein pflichtgetreuer, sehr strenger Mann.“

„Und seine Tochter?“

„Wie so, mein Herr?“

„In welchem Rufe steht sie?“

„Ich habe mich nicht um sie bekümmert, aber auch nichts von ihr gehört.“

„Sie haben sie auch nicht gesehen?“

„O doch, sie kommt manchmal zum Schlosse.“

„Ist sie hübsch?“

Die Dame mußte sich einen Augenblick besinnen.

„O ja, sie ist recht hübsch.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_294.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)